Jan-Robert Dünnweller
Einfach abschalten?
Die Vernetzung ist ein Segen. Warum dann die vielen Ratschläge zur „digitalen Entgiftung“? Michael Reitz sucht nach einem eigenen Weg
07.03.2016

Vor ein paar Monaten machte ich mir zum ersten Mal Gedanken über die Entnetzung. Der Auslöser: Eine junge Frau, die gebannt auf ihr Smartphone schaute, rannte auf offenem Gehweg in mich hinein. Gut, ich weiß: Die Mehrheit der unter 35-Jährigen schaut mehr als 25 Mal am Tag auf ihr Smartphone („text intern“ im Januar 2016). Und in Frankfurter Schulen zeigen Polizeibeamte Videos aus einer Überwachungskamera, auf denen zu sehen ist, wie eine Schülerin, abgelenkt durch ihr Smartphone und mit Stöpseln im Ohr, unter eine U-Bahn gerät und lebensgefährlich verletzt wird. Aber wie sinnvoll ist die Grundsatzdebatte: Geht es nicht auch ohne Smartphone?

In Teilen der deutschen Öffentlichkeit macht sich eine Art ­Kulturpessimismus breit. Nach der Vernetzungseuphorie der vergangenen zwanzig Jahre kommt jetzt die Empfehlung, sich zu entnetzen: Weg von den Standardsuchmaschinen, den einschlägigen Providern, dem Onlinehandel und Schluss mit der permanenten Erreichbarkeit! Vorbild dafür ist unter anderem eine Bewegung aus den USA, die sich „Digital Detox“ nennt, digitale Entgiftung. Menschen zahlen dort nicht wenig für Workshops und Wochenendfreizeiten, bei denen sie offline sind. Smartphones müssen abgegeben werden, stattdessen erfreut man sich an Erlebnissen, die man allenfalls aus Kindertagen kennt, zum Beispiel an einem gemeinsamen Abend am Lagerfeuer.

###autor###Nicht schlecht in dieser Hinsicht ist auch die Android-App ­„Offtime“, frei übersetzt: Zeit zum Abschalten. Sie verweist die Handynutzer für eine vorher festgelegte Dauer in die direkte menschliche Kommunikation und verschickt selbst erzeugte Antworten auf eingehende Mitteilungen. Dazu nimmt sie ­(Originalton Werbung) „Einblicke in deine Smartphone-Nutzung“ und reagiert mit „App-Blocking“ und Kommunikationsfiltern.

Ob das sinnvoll ist? Oder sollte man einfach kapitulieren vor dem, was sowieso nicht mehr zu ändern ist, und die Folgen ganz pragmatisch abfedern – wie in London, wo man Laternenpfähle polstert, damit sich Smartphone-Nutzer keine Beulen holen?

Ich selbst bin ein vorsichtiger Kulturoptimist. Die Rede davon, dass die digitalen Medien uns durch vereinheitlichte Inhalte und ihre automatisierte Verbreitung letztlich zu Opfern einer Verdummungsmaschinerie machen, gefällt mir nicht. Ich lebe im 21. Jahrhundert. Smartphone, Laptop oder Tablet sind Geräte meines mobilen Büros, ohne die meine Arbeit als freier Autor wesentlich komplizierter und zeitaufwendiger wäre. Während ­ich mit einer auf meinem Handy gespeicherten Fahrkarte nach München unterwegs bin, kann ich mir in Berlin ein Hotelzimmer aussuchen, das ich in zwei Wochen benöti­gen werde.

Die Vernetzung ist ein Segen

Doch: Gespräche ändern sich durch ­die Smartphones. Ich erinnere mich an ein Treffen mit Freunden. Ich erzählte ­ihnen von einem Sketch des Comedians Hape Kerkeling und versuchte, ihn nachzu­machen, um meine Mitmenschen zum ­Lachen zu bringen. Doch jeder von ihnen zückte während meiner Performance sein Tablet oder Smartphone, fand in Windeseile bei Youtube das Original, starrte auf das Display und amüsierte sich köstlich. Ich fühlte mich wie ein Betrüger, denn so perfekt wie Kerkeling bin ich wirklich nicht. Nicht zum ersten Mal hatte ich den Eindruck, dass das Netz ein gigantischer Besserwisser ist.

Und ein Meer an Informationen dazu (die sich allerdings nicht selten wiederholen). Klaus Goldhammer, Geschäftsführer der ­Beratungs- und Forschungsgruppe Goldmedia, spricht schon von einer informationellen Fettsucht, einer „digitalen Adipositas“. Das gesamte Datenvolumen werde sich sich im Zeitraum von 2014 bis 2019 verzehnfachen, nicht zuletzt wegen der immer zahlreicher werdenden Videos.

Radikale Entnetzer haben ein griffiges Wort geprägt: „Siesta-Aktivismus“. Statt mich mit konstant hoher Betriebstemperatur durch die Netze zu bewegen, möchte ich das Recht auf Faulheit in Anspruch nehmen. Eine Faulheit, die mühsam ist, weil ich auch gegen mich selbst kämpfe. Checke ich meine Mails nur noch zwei Mal am Tag? Schalte ich mein Handy während der Mittagspause oder am Abend aus? Ich gebe zu: Wenn ich mir eine Telefonab­stinenz vornehme, bekomme ich es immer mit meiner mangelnden Selbstdisziplin zu tun. Es könnte mir etwas Wichtiges ent­gehen. Ein Zeitungshonorar zum Beispiel.

Ich finde: Die Vernetzung ist ein Segen. Das ändert aber nichts daran, dass mir der öffentliche, manchmal geradezu exhibitionis­tische Gebrauch der neuen Medien und ihrer Geräte immer wieder auf den Wecker geht. Weil ich auf langen Bahnreisen lesen und arbeiten will, reserviere ich grundsätzlich einen Platz in der Ruhezone. Und immer findet sich mindestens einer, den die durchgestrichene Handy-Plakette nicht im Mindesten interessiert. Weise ich ihn darauf hin, trifft mich regelmäßig ein vernichtender Blick. Dabei wünsche ich mir doch nur ein paar Stunden ohne Klingeltöne und Telefonate, die mich nichts angehen.

Smartphones als Werbeträger

Entnetzung ist nichts, was von selbst geschieht. Gerade hierin liegt ihr kreatives Moment. Ich frage mich nämlich nicht nur, ob und wie lange ich vom Netz gehen will, sondern auch: Was ist mir wichtiger als Mails und Surfen? Was wollte ich schon immer mal tun? Für wen und für was wollte ich mehr Zeit aufwenden? Da heißt es, Strategien zu entwickeln, die mich einerseits nicht aus allen Kontakten kegeln, aber auf der anderen Seite meine ­Muße sicherstellen und Freiraum für Freunde und wichtige Dinge schaffen. Kein Grund zur Panik also, Alternativen sind verfügbar. ­

Diese Veränderungen sind keine Bedrohung, sondern ein Gewinn. In dieser Facebook-Gesellschaft untersteht niemand nur der eigenen Kontrolle, sondern auch jener der anderen. Es gibt nicht nur die Chance, wahrgenommen zu werden und mit vielen zu kommunizieren, sondern man wird auch beobachtet. Dieses Risiko gehe ich ein. Auch dass viele Dinge, die auf meinem Mist gewachsen sind, Abschöpfungs­masse für andere sind, zum Beispiel für Unternehmen der Werbewirtschaft. Was ich preisgebe, kann im Interesse anderer gezielt und systematisch zur Marktsteuerung genutzt werden. Smartphones sind Werbeträger mit einem gigantischen Wachstum – Fachleute rechnen im Jahr mit mehr als 30 Prozent. Ich akzeptiere das als unerfreuliche Begleiterscheinung meiner persönlichen Vernetzung.

Bedingungslose Entnetzung? Nein, danke. Ich folge der ­Empfehlung des Aristoteles, den mittleren Weg zwischen zwei Extremen zu gehen. Jenseits von allem Entnetzungsfundamentalismus versuche ich, mir einen digitalen Sabbat zu gönnen, um das Glück, entnetzt zu sein, zu genießen. Es geht mir nicht um mehr oder weniger Datenaufnahme. Es geht mir um die Kompetenz, mich nicht ständig angesprochen zu fühlen.

Auch wenn dieses Wort etwas groß ist: Es geht mir um eine Kultur der Stille. Sie zu entwickeln, braucht Zeit und Raum. ­E-Mails, SMS, Mailbox-Gebimmel oder Internet-Surferei schalte ich ab, im wahrsten Sinne des Wortes. Stattdessen liege ich auf dem Sofa, lese Gedichte von T. S. Eliot oder Schopenhauers „Kopfverderber“-Buch. Oder auch mal wieder Episoden aus dem Alten Testament: Esters Mut und Klugheit, Elias weiter Weg zu sich selbst. Dazu Musik – Tom Waits, Leonard Cohen oder Patti Smith. Und irgendwann tauche ich wieder auf.

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Die Versklavung durch die IT-Industrie wird heute als normal angesehen, nicht nur von den digital nativs, sondern natürlich auch von denen, die aus beruflichen Gründen dazu genötigt werden. Damit hat sich auch der Freiheitsbegriff massiv verändert. Freiheit bedeutet heute vielfältiges Vernetztsein – man beachte hier auch die freilich unbeabsichtigte Symbolik, die Assoziation mit dem Vernetztsein im eigentlichen Sinne, vergleichbar auch mit einer Fliege im Spinnennetz – mit entsprechenden Auswirkungen wie etwa technischer und sozialer Abhängigkeit von ständig neuer Hard- und Software, Tarif- und Vertragsbindung und Datenpreisgabe zur kommerziellen Weiterverwendung. Wer wie ich aus anthropologisch-kulturtheoretischen Gründen weitgehender IT-Abstinenzler ist, wird zunehmend zum Außenseiter. Aber ich trage es, ich würde nicht tauschen wollen!

 

Friedhelm Buchenhorst, Grafing