chrismon: Ihre Bilder leben von Bewegung und Schwung. Wie machen Sie das?
Sabine Wilharm: Ich habe beobachtet, dass es Entsprechungen zwischen Zeichnern und ihren Zeichnungen gibt. Jemand, der sehr ruhig ist, tendiert eher zu ruhigen Bildern. Ich bin eher unruhig und habe mich immer gern bewegt. Fliegen kann ich ja leider nicht, aber dafür liebe ich schnelles Radfahren, Laufen, Tanzen. Man kann sich beim Springen dem Springen überlassen – und beim Tanzen dem Drehen. Und dieses Gefühl, den eigenen Körper einer Dynamik überlassen zu können, bekomme ich auch über das Zeichnen. Man versetzt sich in die Zustände der Figuren hinein, ob es nun Gefühle oder körperliche Bewegungen sind. Es ist viel schwieriger, mit schlaffer, trübsinniger Körperhaltung und Mimik einen lachenden, tanzenden Menschen zu zeichnen, als wenn man selber im Körper gespannt ist und lächelt.
Welche Vorbilder haben Sie?
Immer mal wieder neue, es gibt ja so viele tolle Zeichner und Maler. Einer meiner Lehrer an der Fachhochschule für Gestaltung in Hamburg war Zeichner durch und durch: Wilhelm Martin Busch. Er hat bis ins höchste Alter gezeichnet, auch noch im Krankenbett. Durch ihn habe ich entdeckt, dass ich nichts Mysteriöses lernen musste, sondern der Grundstein die Lust am Sehen und an der Umsetzung ist.
Sie haben Goethes „Erlkönig“ bebildert und eine kurze Rahmenhandlung dazu erfunden: Vater und Sohn steigen in einen Zug, ein fremder Mann setzt sich zu ihnen ins Abteil, der Sohn schläft auf dem Schoß des Vaters ein, die Ballade beginnt. Ganz am Schluss steigt der Sohn sicher an der Hand des Vaters aus dem Zug. Warum haben Sie das Gedicht so eingebettet?
Goethes Gedicht ist sehr hart. Der Vater kann sein Kind nicht beschützen, es stirbt. Meine Rahmenhandlung soll den Schrecken abfedern, man kann sie aber auch überlesen, sie beginnt vor dem Titel und läuft wie zufällig in kleinen Bildern über die Seiten. Man darf aber auch denken, die Ballade sei ein Traum. Der unheimliche Fremde, der in den Zug steigt und sich direkt vor einen setzt – diese Situation kenne ich, seit ich als Kind mit der Straßenbahn gefahren bin. Der Sohn zieht kurz vor der Abreise einen Comic mit Pferden aus einem Ständer, Blicke eines Fremden bedrängen ihn, der Vater ist in der Zeitung versunken. Die Blicke kann man nicht klar deuten. Sie bekommen im Traum, in der Erlkönig-Ballade, eine Antwort. Das unheimliche Gefühl wird im Traum als Schrecken eingelöst, und es bleibt auch nach dem Aufwachen.
Und der Zug fährt in Weimar ein, der Goethe-Stadt.
Ein bisschen Augenzwinkern musste sein.
Der Erlkönig ist ein giftgrünes Grinsemännchen. Wie ist er entstanden?
Alle meine Figuren entstehen direkt auf dem Papier. Ich habe den Text im Kopf und versetze mich in seine Stimmung, bis ich schließlich denke: Oh, das könnte es sein. Beim Erlkönig war die Frage: Wie bedrohlich zeichne ich ihn? Ich wollte ihn richtig zeigen, nicht nur als Nebelstreif mit Gesicht oder so. Er wirkt jetzt wie ein giftgrüner Clown, aber einer, der keinen Spaß versteht. Und seine Töchter sind eher kindlich, aber ohne Moral, sie wollen Spaß, selbst wenn sie dabei etwas kaputtmachen. Sie sind Biester, witzig und gefährlich. Man könnte den Erlkönig ja auch als Verführungsgeschichte lesen, als eine Art Missbrauch im Wald. Aber diese Dimension wollte ich weglassen. Mein Buch ist ja für Kinder, und denen möchte ich dieses traumatische Thema nicht aufdrängen.
Sie haben Gedichtbände von James Krüss und Fontane illustriert, auch Goethes „Zauberlehrling“. Mögen Sie Gedichte?
Ich mag die sehr offene Form gern. Aber die Titel unterscheiden sich. Meine Bücher Erlkönig und Zauberlehrling sind durchgehende Geschichten mit großen klaren Bildern. Die Gedichtsammlungen haben dagegen viele verstreute Vignetten und sind sehr luftig gestaltet.
Sie haben auch die Gedichtsammlung „Der beste Tag aller Zeiten“ bebildert. Was hat Sie daran gereizt?
Die Verschiedenartigkeit der Gedichte. Susan Kreller hat Gedichte von 99 Autoren aus allen englischsprachigen Ländern gesammelt, auch aus afrikanischen Ländern, aus Indien und Neuseeland. Sie haben ganz eigene Elemente. Ihre Themen sind breit gestreut.
Was forderte Sie beim Zeichnen heraus?
Man zeichnet sich bei so unterschiedlichen Gedichten nicht in eine einzige Art und Weise hinein, wie ich es bei einem Autor oder einer Sprache tun würde. Das kann auch gefährlich sein, das Buch darf ja bei der großen Vielfalt an Illustrationen nicht auseinanderfallen. Ich habe ein bisschen mehr mit Materialien und Stilen gespielt als sonst. Und mit der Fantasie sowieso. Ich habe Abendreiher erfunden, die die Menschen einer ganzen Straße in Licht tauchen. Und einen Jungen, der träumt, dass er fliegen kann und dabei immer Flötenspiel hört.
Müssen Kinder Details aus den Texten in den Bildern wiederfinden?
Eine Illustration muss auf jeden Fall auf den Text eingehen. Die Frage ist vielleicht umgekehrt: Wie weit darf sie sich von ihm entfernen? Ich finde es schön, wenn eine Illustration Erzähltes verdeutlicht, daneben aber auch in irgendeiner Weise kommentiert. Man kann Geschichten fortführen oder Nebenhandlungen zeigen. Zum Beispiel fällt eine Frau auf der Straße hin, ruft „Aua“, schimpft und ist schmutzig. Das wäre das Hauptereignis. Aber nebenbei spielen sich noch andere Dinge ab. Vögel fliegen unbeirrt umher, ein Hund schnüffelt an einem Baum, Menschen hasten vorbei. Sie interessieren sich nicht für den Sturz, ihnen ist anderes wichtig. Dadurch entsteht im Bild eine kleine Relativierung des Ereignisses. Die Welt dreht sich weiter. Das kann deprimierend sein, aber auch tröstlich. Vor allem ergibt sich daraus sehr viel Komik. Im Text steht nur, dass die Frau hinfällt und sich ärgert. Die Vögel, der Hund, der Schmutz an ihren Kleidern, das wird nicht beschrieben. Diese Freiheiten, die ich mir beim Zeichnen erlaube, dürfen nicht im Widerspruch zur Intention der Geschichte stehen.
Vom Harry Potter im Film enttäuscht
Sie zeichnen auch Tiere als eigenständige Charaktere.
Auch sie sollen als Individuen wahrgenommen werden. Außerdem macht es Spaß, Tiere zu erfinden, die genauso merkwürdig eigen sind wie wir Menschen. Und natürlich stehen Tiere in der Illustration in vielen Geschichten sowieso für Menschen.
Sie sind nicht zuletzt die Zeichnerin, die dem deutschen Harry Potter sein Gesicht gegeben hat.
Zunächst war das ein ganz normales Kinderbuch, was mir die Lektorin Gabriele Leja vom Carlsen Verlag damals zugeschickt hatte. Ihre einzige Bedingung war: Die Hauptperson, also Harry, sollte auf dem Cover zu sehen sein. Sonst hätte ich ihn nicht so prominent gezeichnet. Bei manchen Büchern verschmelzen Bild und Text für den Leser zu einer guten Einheit. Es kann aber auch furchtbar schiefgehen und der Leser fühlt sich durch das Bild ständig gestört. Man nimmt der Fantasie ja etwas weg, wenn man jemanden zeigt.
Im Film sieht Harry Potter jetzt so aus, wie Sie ihn gezeichnet haben.
Finden Sie? Ich war ein bisschen enttäuscht. Seine Haare sind ja gar nicht strubbelig. Ich habe ihn mir anders vorgestellt.
Sie haben einmal gesagt, Harry Potter war nicht Ihr künstlerischer Durchbruch. Was war es dann?
Es war eher ein langsames Durchbohren. Mein Mut zu größerer zeichnerischer Freiheit hat angefangen mit den Illustrationen zu „Wie der Kater Zorbas der kleinen Möwe das Fliegen beibrachte“. Da habe ich zum ersten Mal nicht nur Zeichnungen auf einer Seite gemacht, sondern sie in den Text hineingeflochten. Ich wurde freier, auch im Umgang mit dem Layout.
Auch dem Mädchen „Ella“ aus der immer berühmter werdenden Serie des finnischen Kinderbuchautors Timo Parvela haben Sie ein Gesicht gegeben. Was gefiel Ihnen an diesem Buch?
Es ist witzig, eine Art von Slapstick, die Kinder und Ewachsene anspricht. Ich merke auch die Tücken einer Serie. Ich wusste anfangs ja nicht, dass es so viele Folgebände geben würde. Mittlerweile würde ich die Illustration freier gestalten. Aber jetzt kann ich den Stil nicht mehr ändern.