chrismon: Sie erzählen mehr in Bildern als in Wörtern. Trauen Sie Bildern mehr?
Shaun Tan: Nein, ich traue Wörtern eigentlich ein bisschen mehr. Und das ist auch schon Teil des Problems. Wörter sind so überzeugend, sie erklären gleich alles. Nehmen wir an, Sie sehen in der Zeitung ein Bild von einem Mann, und in der Schlagzeile steht, dass er einen Preis für soziales Engagement bekommen habe. Dann interpretieren Sie das Bild anders, als wenn in der Schlagzeile steht, dass er ein Massenmörder sei. Wörter haben so eine große Macht. Deshalb kommen sie in meinen Büchern so wenig vor. Oft stehen in der ersten Fassung eines Buches mehr Wörter, und dann streiche ich sie wieder. Wörter schränken die Fantasie ein. Sie enthalten zu viel eigene Interpretation, die für andere irrelevant ist.
Wie meinen Sie das?
Der erste Satz in „Die Regeln des Sommers“ hätte zum Beispiel lauten können: „Das habe ich in diesem Sommer von meinem Bruder gelernt.“ Auf mich würde das zutreffen, denn ich habe tatsächlich einen älteren Bruder. Aber jemand, der keinen Bruder hat, könnte damit nichts anfangen und wäre schon ausgeschlossen. Deshalb heißt der erste Satz: „Das habe ich in diesem Sommer gelernt.“ Ich versuche auch immer Wörter zu vermeiden, die zu emotional sind: glücklich, traurig, Liebe, Verzweiflung – das wäre mir viel zu viel Festlegung. Ohne Wort kann ein Bild erschreckend und komisch zugleich sein.
"Es geht um Angst. Angst ist ihre größtmögliche Reaktion."
Das Ich in Ihrem Buch lernt lauter seltsame Ein-Satz-Regeln. Warum?
Wenn wir etwas erst einmal nicht verstehen, gibt das unserer Fantasie mehr Raum. Ich bin vielleicht zehn Jahre mit der Idee zu diesem Buch schwanger gegangen und habe über zwei Jahre Skizzen gemacht, bis ich die Bilder und Sätze gefunden habe, die ich am interessantesten fand. Also die, die am meisten an Träume erinnern und mit denen sich die Leser länger auseinandersetzen können.
Die erste Regel des Sommers lautet: „Nie eine rote Socke auf einer Wäscheleine hängen lassen.“ Das Bild dazu: Die Brüder kauern ängstlich in einem öden Innenhof vor einer Wäscheleine mit einer roten Socke. Hinter der Mauer in ihrem Rücken ein riesiger flammend roter Hase mit rotem Auge. Was bedeutet das?
Ich weiß es auch nicht genau. Ich probiere immer mehrere Bildelemente aus. Anfangs war der Hase ein schwarzer Wolf. Aber der war mir dann zu bekannt durch die Märchen, zu symbolisch. Der Hase ist mehrdeutiger, zumal er ja nicht die üblichen Hasenattribute hat, sondern riesig, rot und unbeweglich ist. Die Jungen sehen ihn nicht direkt an, sind sich aber bewusst, dass er da ist. Angst ist ihre größtmögliche Reaktion. Das wirkt natürlich viel stärker, als wenn sie einen kuschligen Hasen streicheln oder wenn der einfach vorbeihoppeln würde. – Es geht um Angst.
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Der Gegensatz von kleinem Söckchen und riesigem Hasen reizt auch zum Lachen. Ist das Ihre Kunst, Verspieltheit?
Schon auch, aber ich lege sie nicht absichtlich in meine Bilder hinein. Sie entsteht einfach so während des Malens und sorgt dafür, dass ein Bild nicht zu prätentiös wird. Ein bisschen Humor wirkt befreiend. Man kann einen Leser dazu bringen, über ernste Themen nachzudenken, aber wenn eine Geschichte sehr dunkel ist, muss es zumindest Spaß machen, sie anzusehen. Außerdem handelt dieses Buch mehr oder weniger von der Kindheit. Meine Kindheit war fröhlich. Ich habe viel mit Freunden herumgeblödelt und mich amüsiert. Jedenfalls mehr als heute als Erwachsener.
In manchen Bildern leuchtet im Hintergrund etwas Wunderbares, Magisches auf. Auch ein Gefühl Ihrer Kindheit?
Dieses Gefühl begleitet mich schon mein ganzes Leben lang. Und ich glaube, das geht vielen Leuten so. Man muss sich ja nur die religiöse Kunst über die Jahrhunderte ansehen. Als Maler beschäftigt man sich natürlich auch viel mit Licht und wie es allem Form gibt. In Westaustralien aufzuwachsen hat meine Sensibilität wohl noch gesteigert, weil das Licht hier sehr intensiv ist. Die Farben kontrastieren sehr stark, und die Lichtverhältnisse ändern sich mehrmals am Tag. Viele australische Leser haben mir gesagt, dass die Farben und das Licht in diesem Buch die Farbpalette des Landes spiegeln.
"Aber Melancholie gehört auch zum Leben. Sie kann einen mitten in der Sonne erwischen"
Erzählen Sie etwas, was die Brüder wirklich erlebt haben, oder zeigen Sie das Abbild ihrer inneren Landschaft?
Beides. Man sieht auch viel Reales auf den Bildern, das darauf hindeutet, dass es den Ort des Geschehens und auch das Geschehen selbst wirklich gibt. Ganz am Schluss sitzen die Brüder in ihrem Zimmer vorm Fernseher, und an den Wänden hängen Zeichnungen von ihren Erlebnissen. Vielleicht entspringt alles, was man auf den Bildern sieht, tatsächlich nur ihrer Fantasie. Mir gefällt, dass man das nicht genau weiß. Und es spielt auch keine große Rolle. Wichtig ist nur, welche Gefühle eine Situation auslöst, ganz egal, ob sie wirklich passiert ist oder nicht. Wie man darauf reagiert, wie man mit den Gefühlen umgeht.
Die Stadt, in der das passiert, wirkt ziemlich trostlos. Warum?
Diese Stadt gibt es wirklich. In der Vorstadt von Melbourne, in der ich lebe, stehen noch viele alte Fabrikgebäude. So trostlos finde ich sie eigentlich nicht. Aber Melancholie gehört auch zum Leben. Sie kann einen mitten in der Sonne erwischen: Gefühle der Einsamkeit und des Unverstandenseins, in der Kindheit oft auch Langeweile. Das Gefühl einer nicht endenwollenden Langeweile gibt es wohl in jeder Kindheit.
Haben Sie sie zusammen mit Ihrem Bruder weggespielt?
Ja, so war es wohl. Wir hatten viele Interessen: fischen, Drachen bauen und steigen lassen, Steine und Muscheln sammeln, Filme gucken, nach Käfern Ausschau halten, etwas erfinden und chemische Experimente im Hinterhof machen – mit Explosionsgefahr!
In „Die Regeln des Sommers“ streiten und prügeln sich die Brüder. Der Satz dazu: „Nie nach einem Grund fragen.“ Warum das?
Erst ist das Bild entstanden, dann der Text. Ich wollte weder den Kampf erwähnen noch Emotionen in Wörtern festlegen. Und dann ist mir eingefallen, dass Streit oft aus einem Gefühl der Ungerechtigkeit entsteht. Aber wenn man nach dem Grund fragt, gibt das Gegenüber keine zufriedenstellende Antwort, weil es ganz anders über die Sache denkt – das ist ja auch der Grund für den Konflikt. Der Satz ist offen für Interpretation: Nie nach einem Grund fragen, weil man es nicht erklären kann. Es hat ganz einfach keinen Sinn, besonders in engen Beziehungen. Oder einer hat nach einem Grund gefragt und dann gab es Streit. Der Satz könnte sich auch direkt an den Leser richten. Er schaut sich das Bild an und fragt sich: Warum kämpfen die denn jetzt miteinander? Vielleicht findet er als unbeteiligter Dritter einen Grund.
Erst zum Ende des Buchs wendet sich der ältere Bruder dem jüngeren zu. Warum ändert sich seine Haltung?
So ist es doch oft. Wenn ich Konflikte mit anderen hatte, haben sie sich oft genauso wieder aufgelöst, wie sie gekommen sind. In diesem Fall würde ich auch nicht von einer Verhaltensänderung sprechen. Sondern der Ältere besinnt sich nur auf seine eigentliche Einstellung dem kleinen Bruder gegenüber. Am Anfang des Buches passt der Ältere ja auf den Jüngeren auf. Er beschützt ihn vor dem roten Hasen und bewahrt ihn vor Raubvögeln. Aber im Laufe der Geschichte geht er immer mehr auf Distanz. Er spielt seine Überlegenheit aus, aber der Jüngere ist auch irgendwie nachlässig, macht kleine Fehler.
Wann zum Beispiel?
Einmal heißt es ja „Nie einem Fremden einen Schlüssel geben“. Genau das hat der Jüngere offensichtlich getan, denn das Bild zeigt, wie der Ältere mit diesem Fremden, einem großen Kater im Anzug, vorm Fernseher sitzt. Der Jüngere ist ausgesperrt. So ist das doch manchmal unter Kindern. Man findet einen neuen Freund, den man eine Zeit lang interessanter findet und ist nicht besonders nett zum alten Freund, hier: dem kleinen Bruder.
Ist „Die Regeln des Sommers“ ein Bilderbuch für Kinder oder für Erwachsene?
Im Vergleich zu meinen anderen Büchern ist es wohl mehr ein Kinderbuch. Aber als ich das Buch entworfen habe, waren die Protagonisten zuerst nicht zwei Brüder, sondern ein Mann und eine Frau, es war mehr eine erwachsene Beziehung. Dann sah es auf vielen Bildern mehr nach Kinderabenteuern aus. Da habe ich es mit einem Jungen und einem Mädchen probiert, um beide Geschlechter mit ins Spiel zu bringen. Schließlich sind es zwei Brüder geworden, weil mir das am vertrautesten ist. Mein Bruder ist 18 Monate älter als ich. Und die Geschichte ist ja mehr oder weniger aus der Perspektive des Kleineren erzählt. Wenn ich ein Buch mache, denke ich eigentlich nicht in Kategorien wie Kinder oder Erwachsene. Allerdings arbeite ich viel für Kinderbuchverlage, und ich schaue mir viele Kinderbücher an, einfach, weil es mich interessiert. Über die Wirkung auf Kinder denke ich dabei nicht nach.
Welche Maler und Filme haben Sie beeinflusst?
Als das Buch in Europa herauskam, haben viele Leute gesagt, das Cover sieht aus wie ein Gemälde von van Gogh. Aber Vincent van Gogh ist mir beim Malen gar nicht in den Sinn gekommen. Ich habe Gras und blauen Himmel einfach so gemalt, wie ich sie sehe. Europäische Maler haben mich ohnehin weniger beeinflußt als australische Landschaftsmaler, die man in Deutschland nicht so kennt. Maler wie Arthur Streeton, der im 19. Jahrhundert gelebt hat, und viele andere. Die Kritiker haben auch immer wieder Jeffrey Smart identifiziert, der die urbane Einsamkeit noch drastischer darstellt als Edward Hopper, von dem wiederum er beeinflusst ist. Und viele, viele Filme haben mich inspiriert. Mehr als die Schauspieler interessiert mich immer, wer der Artdirektor war. Auch animierte Kinderfilme, die visuell oft genau durchdacht sind, finde ich spannend.
Was inspiriert Sie noch?
Musik. Und meine Umgebung, die Vorstadt von Melbourne. In meinem Stadtteil stehen viele Fabrikgebäude, die allmählich zu Appartements umgewandelt werden. Manchmal inspirieren mich auch Erlebnisse. Ein Bild ist entstanden, nachdem ich 2011 zu einigen Partys rund um die Oscarverleihung in Los Angeles eingeladen war. Die Sommerregel dazu lautet: „Nie auf einer Party die letzte Olive essen.“ Man sieht, wie der ältere Bruder den jüngeren von einem Teller wegzieht, auf dem nur noch eine Olive liegt. Dahinter steht eine dicht gedrängte Menge von befrackten Raubvögeln mit tiefschwarzen Olivenaugen. – Kennen Sie das Gefühl, in der Welt von jemandem auf einer Party eingeladen zu sein und Angst zu haben, etwas falsch zu machen, obwohl man sich eigentlich amüsieren soll? Dieses Gefühl ist hier eingeflossen.
„Die Regeln des Sommers“ ist sehr farbig, mehr als Ihre anderen Bücher. Wie kommt das?
Eigentlich entspricht das mehr meinem Naturell. Deswegen ist die Frage eher, warum meine anderen Bücher nicht so farbig sind. Wenn ich Landschaften male – ganz normale, keine fantastischen – benutze ich gerne eine große Farbpalette. Aber zu manchen Themen passt das nicht. In einem Buch, „Die Fundsache“, geht es um Einsamkeit, das ist eher in gedeckten Farben gehalten. Und „Ein neues Land“ erzählt die Geschichte eines Migranten, das Sepiabraun dort erinnert an alte Fotos.
„Nie den letzten Sommertag verpassen“ lautet die letzte Sommerregel. Warum ist das so wichtig?
Wie waren Ihre Kindheitssommer?
Sehr lang, sehr schön und sehr aufregend. Aber jetzt bin ich 40 Jahre alt. Erinnerungen sind das Einzige, was von der Kindheit bleibt. Ein bisschen nostalgisch ist das Buch wohl auch.