Marco Wagner
Kredite, die Freiheit bringen
Mit Genossenschaften schützte Hermann Schulze-Delitzsch Handwerker und Kaufleute gegen Kreditwucher.
Maren Kolf
21.10.2014

4. Februar 1850: Ein Jurist und aufstrebender Politiker steht vor einem Berliner Gericht. Neben ihm auf der Anklagebank 41 weitere Männer: Beamte, Pfarrer, Lehrer. Allesamt ehrenwerte bürgerliche Abgeordnete der demokratisch gewählten preußischen Nationalversammlung. Ihre Verfehlung: Sie respektieren ihren König Friedrich Wilhelm IV. zwar irgendwie, aber nicht so sehr, dass sie ihm alle Macht gönnen. Als er ein Jahr zuvor die Nationalversammlung in ihren Rechten beschneiden wollte, war dem linksliberalen Abgeord­neten Hermann Schulze-Delitzsch im Parlament der Kragen geplatzt. Diese Regierung sei „nicht berechtigt, über Staatsgelder zu verfügen und Steuern zu er­heben, solange die Nationalversammlung nicht ungestört ihre Beratung in ­Berlin fortzusetzen vermag“, mahnte er – ein Aufruf zur Steuerverweigerung. Kurz darauf stürmte Militär den Saal und löste das Parlament gewaltsam auf. Der König erließ strenge Notstandsgesetze.

Doch des Monarchen Plan geht nicht auf. Am vierten Prozesstag hebt Schulze-Delitzsch vor Gericht zu einer langen Verteidigungsrede an. Rhetorisch wie ­juristisch brillant zerpflückt er die An­klage bis zur Unkenntlichkeit. Das überzeugt die Richter. Am 21. Februar werden er und  fast alle anderen freigesprochen. Dennoch ändert sich sein Leben einschneidend: Er muss seine Heimatstadt Delitzsch in Sachsen verlassen und wird auf eine Hilfsrichterstelle in die Provinz Posen geschickt. Wie gut, dass ihm Bertha Jakob begegnet, das Glück macht die Einsamkeit erträglich.

In der Ferne schmiedet er weiter an seiner Vision. Er weiß, wie die industrielle Revolution die Handwerker in die Not treibt. Ihnen möchte er helfen – aber nicht durch Almosen, sondern durch Hilfe zur Selbsthilfe. Wenn sich die Arbeiter in Genossenschaften zusammenschlössen, könnten sie gemeinsam gute Preise verhandeln – im Einkauf wie im Verkauf. In Delitzsch hatte er 1849 bereits eine Schuhmachergenossenschaft mitgegründet. Nun geht es darum, die Handwerker vor Kreditwucherern zu schützen.

Genossenschaftliche Sparvereine sieht Schulze-Delitzsch als Lösung: Sie gehören den Teilhabern, verwalten sich selbst und könnten als eigen­ständige Unternehmensform ein verlässliches Institut zur Finanzierung mittelständischer Betriebe sein.

Die eingebaute Gierbremse

Selbstverantwortung – das ist die Leit­idee des Juristen und Politikers. Ins Reli­giöse gewendet: Die Menschen sollen nicht nur aufschauen „zu dem Messias, der da kommen soll, die Geschicke der Menschheit zu vollenden. Die Menschheit selbst muss dieser Messias werden; in uns, in unserem eigenen Leben und nirgends sonst vollzieht sich die Erlösung.“ Der Einsatz für Arme und die Verlierer der Industrialisierung ist für ihn deshalb das „Evangelium unserer Tage, Gottes­dienst im Dienste der Menschheit“. Wenn Schulze-Delitzsch dem christlichen Glauben etwas abgewinnen kann, dann wegen seiner sozialen Dimension. Dennoch erscheinen ihm Menschen obskur, die aus christlichem ­Antrieb ähnliche Ideen wie er in die Tat umsetzen. So wie der ­fromme und eng mit seiner reformierten Kirche verbundene Friedrich Wilhelm Raiff­eisen, der 500 Kilometer weiter westlich am Rhein Genossenschaften gegründet hatte. Mit ihm streitet er über die Frage, für wie lange Zeit die Vorschusskassen Kredite gewähren sollen. Schulze-Delitzsch plädiert für relativ kurze Fristen, Raiffeisen für lange Laufzeiten.

###autor### Seine Idee der genossenschaftlichen Kreditvereine wird an Hunderten von Orten aufgegriffen; Schulze-Delitzsch wird so populär, dass er 1861 ins Preußische Abgeordnetenhaus gewählt wird, schließlich bringt er als Reichstagsabgeordneter 1867 das preußische Genossenschaftsgesetz auf den Weg.

Der Trauerzug, der ihn am 3. Mai 1883 durch Potsdam zum Grab geleitet, ist lang. Bis heute wird der unbequeme Freigeist geehrt. Hermann Schulze-Delitzsch gilt – zusammen mit Friedrich Wilhelm Raiffeisen – als einer der Gründungsväter der Genossenschaftsbanken. Deren Geschäftsgebaren erscheint bis heute als vorbildlich. Die nordrhein-westfälische Ministerprä­sidentin Hannelore Kraft brachte es kürzlich auf den Punkt: Sie haben eine eingebaute „Gierbremse“.

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