Eine provokante Streitschrift macht auf die immer noch skandalöse Armut im Wachstumsland Indien aufmerksam
Tim Wegner
09.05.2014

Zitat aus der Einleitung: „Angesichts der schieren Menge der Opfer sind wir verleitet, in Indien von einem Völkermord oder Genozid  zu sprechen. Um den Begriff zu verwenden, fehlt es einzig am Vorsatz des Staates oder einer organisierten Tätergruppe. Dennoch ist Ziel des Mordens ganz klar die Vernichtung eines bestimmten, eines großen Teils der indischen Gesellschaft.“

Wie bitte? Genozid? Organisiertes Morden?

In Indien wird gewählt und es geht in der politischen Diskussion hoch her. Grenzüberschreitungen sind üblich – doch diese Sätze  gehen darüber hinaus. Schlicht eine Lüge sei das, antworten viele Inder, wenn man sie auf das Buch der beiden deutschen Indienkorrespondenten Georg Blume und Christoph Hein anspricht: „Indiens verdrängte Wahrheit“ haben sie ihre „Streitschrift“ betitelt und tatsächlich ist genau dies der richtige Titel für das Buch: Es stiftet an zum Streiten, und das ist vor allem anderen schon mal sehr gut. Denn das so viel beschworene „Shining India“, das vor Kraft nur so strotzende Schwellenland, das für deutsche Unternehmen von Siemens bis VW vor allem ein schier unendlicher Verkaufsmarkt ist – dieses Indien hat eben auch eine andere Seite.

Hein und Blume sind dezidierte Kenner der Szene: Christoph Hein ist Wirtschaftskorrespondent der FAZ, Georg Blume schrieb jahrelang für die TAZ und die Zeit aus Südostasien und lebte ebenfalls einige  Jahre in Dehli. Intensiv haben sie den Subkontinent bereist und erzählen in dem Buch Geschichten von Menschen, die sie dort getroffen haben: Von Rehka Sharma, die von ihrem Mann verbrannt werden sollte, weil ihre Mitgift aufgebraucht war und eine neue Braut her sollte. Am Ende wurde sie gerettet – um den Preis, dass ihre Familie sie verstoßen hat. Über Javed, der in einem Slum Coladosen einschmelzt: 600 Grad heiß ist die kochende Suppe, die immer wieder überspritzt und seine Haut verätzt. Ein paar Rupien verdient er damit am Tag. Genug, um nicht zu verhungern, zu wenig, um vernünftig zu leben .

Diese Geschichten rütteln wach

Die Geschichten, die beiden Autoren erzählen, gehen ans Herz. Sie rütteln wach. Hinzu kommen Zahlen, Statistiken, Zitate von Wissenschaftlern, Forschern, Politikern. Sie alle belegen: Ja, Indien hat eine verdrängte Wahrheit. Über 300 000 Babys sterben jährlich in den ersten Stunden nach der Geburt. Indien, the „shining country“ hat laut Save the children die höchste Muttersterblichkeit der Welt. Das immer noch aktiv gelebte Kastensystem zementiert die Ungerechtigkeit scheinbar auf alle Ewigkeit: Wer arm geboren ist, bleibt arm.

Aber stimmt es, wenn die Autoren schreiben, „kaum ein Mitarbeiter westlicher Hilfsorganisationen" finde seinen Weg in die entlegenen Dörfer? Dass es „niemanden“, ob in West oder Ost, interessieren würde, dass in Indien unzählige Mädchen täglich verhungern, weil Eltern sie als „nutzlos“ ansehen? Nein, das stimmt nicht. Brot für die Welt, Welthungerhilfe, Misereor und wer weiß wie viele hunderte von kleineren deutschen Hilfsorganisationen sind in Indien unterwegs; hinzu kommen geschätzte über 100 000 (!) indische NGOs. Wie die renommierte Tageszeitung "Times of India" kürzlich veröffentlichte, kommt damit auf 650 Inder eine NGO – das ist Weltrekord. Und wer mit jungen Studenten spricht, die aus einer der untersten Kasten stammen, und die es geschafft haben, der weiß: Es ändert sich eben doch was.

Wie gesagt, dieses Buch regt zum Streiten an. Es öffnet die Augen. Und es wirft die immer noch eminente Frage auf: Was ist eigentlich unsere Rolle? Indische, chinesische, brasilianische Millionäre hin oder her: In allen Schwellenländer verhungern heute immer noch Millionen Menschen. Wer so tut, als finde das nicht statt, der „verdrängt“ tatsächlich eine Wahrheit.

Georg Blume und Christoph Hein, "Indiens verdrängte Wahrheit. Streitschrift gegen ein unmenschliches System", Edition Körber Stiftung, 17 Euro

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