Kopfbälle taten mir weh, deshalb wollte ich nicht selbst Fußball spielen. Aber zuzuschauen, das hat mich schon als Kind begeistert. Und als mein Bruder Schiedsrichter wurde, wurde ich neugierig. Erst recht seit ich im Fernsehen gesehen hatte, wie souverän eine Frau mit blondem Pferdeschwanz ein Pokalfinale leitete, das war die Bibiana Steinhaus. Doch mein Bruder fand, das sei zu kompliziert für mich.
Auch aus Trotz meldete ich mich mit 16 zu einem Lehrgang an. Als einzige Frau saß ich unter 50 Männern. Tatsächlich, erst verstand ich nur Bahnhof. Vom Sofa aus ist man sich ja sicher, wann eine Gelbe Karte fällig ist. Aber als Schiedsrichter muss man genau wissen: Welches konkrete Vergehen liegt vor? Ist man verpflichtet, eine Verwarnung auszusprechen? Oder ist das einer der Fälle, in denen man auch mal fünfe gerade sein lassen kann? Du musst dich innerhalb einer Sekunde entscheiden, und das, während du über den Platz rennst und Spieler und Zuschauer brüllen.
Ich habe mich vom Geschrei umstimmen lassen - eine Todsünde
Wie schwer das ist, merkte ich gleich beim ersten Einsatz in einem Juniorenspiel. Der Ball rollt neben das Tor, ich bin mir nicht ganz sicher, aber hebe den Arm für Eckball. Doch als die versammelten Eltern anfangen zu schreien, lasse ich den Arm sinken und zeige Abstoß an, das Gegenteil. Ich hatte mich glatt umstimmen lassen, eine Todsünde. Am liebsten wäre ich im Platz versunken.
Meine ersten Spiele waren eher ein Desaster. Ich traute mich kaum zu pfeifen. Und wenn ich in meine Pfeife blies, dann so zaghaft, dass nur ein „Ffft“ herauskam. Kein Wunder, ich war unsicher, und ganz prinzipiell falle ich nicht gern auf. Doch jetzt musste ich signalisieren: Alle hören auf mich – sofort! Erst als ich mich mal richtig aufgeregt habe, war ich laut genug.
Inzwischen weiß ich: Schon der erste Pfiff beim Anstoß entscheidet. Ist er laut und kräftig, nehmen dich die Spieler ernst. Ich muss mir Respekt verschaffen und deshalb manchmal auch laut werden. „Halten Sie jetzt den Mund!“, fuhr ich einmal eine Spielerin an. Und siehe da, nachdem sie zuvor die ganze Halbzeit gemeckert hatte, war sie auf einmal still.
Dass Spieler und Trainer sich beschweren, gehört einfach zum Fußball dazu. Aber es muss dem Schiedsrichter egal sein. Einmal hatte ich ein Spiel, da waren alle gegen mich, jede Entscheidung wurde angezweifelt. In der Pause kam meine Betreuerin zu mir und sagte: „Sehr gut, alles richtig gemacht!“ Seitdem kann ich es besser aushalten, wenn vor lauter Wut das halbe Feld auf mich zugerannt kommt. Solche Herausforderungen geben mir heute eher einen Kick. Ich weiß auch, wie ich mich dann durchsetzen kann: Abstand schaffen, mich von den Spielern entfernen, eindeutige Körpersprache, nur das Nötigste sagen.
Jetzt pfeife ich auch in der Herren-Kreisliga
Ich bin selbst erstaunt, wie cool ich inzwischen bin, ich greife auch mehr durch. Vor kurzem habe ich drei Spieler vom Platz gestellt, die Leute blieben vergleichsweise ruhig, mich inbegriffen. Sowieso sehe ich genauer, wenn ich ruhig bin. Deshalb heißt die Devise: Auf dem Platz alle Zweifel abschalten. Und immer entschlossen wirken – selbst wenn ich mir nicht sicher bin.
Ein dickes Fell habe ich auch bekommen, was Sprüche anbelangt. Anfangs war ich schockiert, als ein Zehnjähriger auf dem Platz zu mir sagte: „Hey, mein Bruder wartet da hinten auf dich!“ So einen rauen Ton war ich nicht gewöhnt. Aufgewachsen in einem sehr behüteten Stadtteil, kannte ich die Welt in anderen Vierteln nicht. Die blödesten Bemerkungen kamen von Eltern, eine Frau gehört an den Herd und so.
Jetzt pfeife ich auch in der Herren-Kreisliga, und da sind manche völlig perplex, wenn sie erfahren, dass ich nicht an der Linie stehe, sondern die Schiedsrichterin bin. Wenn ich Assis-tenten habe, lasse ich mir zwischendurch immer mal berichten, was für Sprüche von der Seitenlinie kamen. Wenn es mir zu doll ist, müssen die Trainer gehen. Aber ich bin nicht penibel. Ich bin nun mal in einer Männerdomäne gelandet. Ich glaube, man muss Fußball lieben, um damit klarzukommen.
Protokoll: Bernd Schüler