Endlich Ruhe. Der Abrissbagger hat Feierabend, Jürgen auch. Morgen geht’s weiter, wie jeden Tag: Tack! Tack! Tack! Das AKW Stendal einreißen. Sieben Männer bearbeiten den Beton, bis er zerbröselt und zu Staub wird. In diesem Staub leben sie, manche seit Jahren. Eine Zweck-WG am Rande der bewohnten Welt
19.08.2011

„Irgendwann ist alles Staub, der Eiffelturm auch. Wenn keiner mehr da ist, der sich drum kümmert.“ 20o Jahre würde es dauern, bis die Freiheitsstatue in New York zerfällt, hat Jürgen gehört – angenommen, ein Meteoriteneinschlag vernichtete das Leben auf der Erde und die Dinge wären sich selbst überlassen.


Sonntagabend, Jürgen sitzt vor der Haustür eines Einfami­lienhauses. Das Gesicht von der Sonne gegerbt, die Oberarme kräftig, das dünne Haar nach hinten gekämmt. Er guckt auf die Betonplatte, auf der sein Plastikstuhl steht. „200 Jahre nur.“ Um ihn herum grauer Staub, hinter dem Haus ein Berg aus Schutt, schräg davor zwei Klötze in der Landschaft, auch betongrau. Es hätten die ersten beiden Reaktorblöcke des Kernkraftwerks Stendal werden sollen, an der Elbe in Sachsen-Anhalt. Morgen geht es weiter, Jürgen reißt das Atomkraftwerk ab, zusammen mit sechs anderen Männern. In drei Jahren wollen sie fertig sein; drei Jahre, so lange ist Jürgen schon dabei. „Das ist zu viel, du verblödest hier so langsam.“ 

Dienstbesprechungen sind nach ein paar Worten zu Ende

1982 hatte der Bau des Kernkraftwerks Stendal begonnen, das Dorf Niedergörne musste dafür weichen. 1989 war Block 1 fast fertig, Block 2 wuchs bereits in die Höhe, die beiden an­deren Reaktoren waren noch im Planungsstadium, als die Mauer fiel. Dafür standen schon viele Verwaltungsgebäude und Hallen; in einer davon wollte eine Firma nach der Wiedervereinigung Fertighäuser bauen.
Daraus wurde nichts. Aber eins der Häuser steht heute noch auf dem Gelände, gleich an der Auffahrt. „Testhaus“ ist in blauen Buchstaben an die weiße Hauswand geschrieben, hinter der das Wohnzimmer ist. Hier fangen die Tage um sieben Uhr an, mit Kaffee, Zigarette und Frühstücksfernsehen. Der Moderator spricht vom Atomausstieg, niemand unterbricht ihn. Plötzlich fragt jemand: „Habt ihr noch was zu tun oben?“ Und Jürgen sagt: „Erst mal ein bisschen mehr Fläche machen, dass wir oben besser ­fahren können.“


Das war’s. Dienstbesprechung zu Ende, an die Arbeit. „Oben“, das ist die Fläche auf dem Reaktorgebäude, auf das eine auf­geschüttete Rampe führt. Etliche Meter haben sie schon weggehämmert, im Baggerballett. Jürgen sitzt in einem CAT 375, der an einem Arbeitstag 600 Liter Diesel verbraucht; statt Baggerschaufel ist ein Meißel montiert, so groß wie ein Mensch. Jürgen hat seine eigene Technik entwickelt. Da ist eine Betonwand. In die Mitte meißelt er eine Kerbe, wie wenn er bei einem Baum bestimmen wollte, in welche Richtung er kippt. Dann ist der Fuß der Wand dran, das ist wichtig. „Sonst liegt unten alles voller Schutt, und ich komme da nicht mehr mit dem Meißel ran.“ Irgendwann fällt die Wand, es ist ein zäher Kampf, jedes Mal. Der Beton ist hart, durchsetzt mit Kieselsteinen und Moniereisen, die aus den aufgestemmten Wänden verbogen in die Luft ragen. Alles viel massiver als bei normalen Gebäuden, die Reaktoren russischer Bauart waren nach Tschernobyl nachgebessert worden; im Falle einer Kernschmelze sollte die Strahlung im Sicherheitsbehälter bleiben. Der Bundes­regierung war die Sowjettechnologie dennoch nicht geheuer, sie stoppte den Bau nach der Wiedervereinigung.

Hören, wie der Meißel auf den Beton schlägt

Tack! Tack! Tack! Es ist sehr laut, aber trotz des Lärms muss Jürgen auf Feinheiten achten. Der Meißel muss auf Beton oder Stahl treffen, er darf nicht ins Leere rauschen. Jürgen sagt, das ist für den Meißel so, als wenn ein Mensch mit voller Wucht ins Leere tritt. „Dem tut auch das Knie weh. Stopfste dir was in die Ohren, geht der Hammer kaputt, stopfste dir nichts in die Ohren, kriegste kaputte Ohren. Was ist nun besser?“ Er trägt keine Ohrenschützer.


Was Jürgen zermeißelt hat, schiebt Frank, sein Kollege, mit dem zweiten Bagger über den Rand des Reaktors nach unten. Dort fährt Paul mit einem kleinen Bagger herum, die Arbeiter nennen ihn Fuchs, und zieht mit einem Magnet die Monierstangen aus dem Schutt. Das Eisen wird verkauft, der Beton auch, fein gemahlen, für den Straßenbau. Das ist das Geschäftsmodell, das hinter dem Abriss steht.
Wenn Jürgen in der Baggerkabine den Steuerstab bewegt, immer nur zentimeterweise, hebt der Bagger seinen riesigen Arm. Über 300 Bar Druck. Tack! Tack! Tack! Manchmal ist der Gegendruck so groß, dass sich der Bagger aufbäumt. So geht es Stunden, von weitem sieht es aus, als ob Dinosaurier mit alten Mauern kämpfen. 

Nach dem Frühstück frisst der Fernseher die Gedanken

Um zehn Uhr ist Frühstückspause. Nach und nach kommen die Männer ins Haus, auch André, der Vorarbeiter. Er war übers Wochenende bei seiner Familie in Mecklenburg und hat ein altes Boot mitgebracht, es liegt draußen auf einem An­hänger. Drinnen im Wohnzimmer ist der braune Tisch mit den metallenen Beinen schnell gedeckt, Bretter, Messer und eine große Box mit Aufschnitt vom Discounter; mehr brauchen sie nicht. André, ein großer, stämmiger Mann mit kurz geschorenen Haaren, kramt eine Fischdose hervor und hält sie Paul unter die Nase. „Na? Wonach riecht das?“ Die Männer beginnen zu lachen, Paul kaut einfach weiter an seinem Brot; er ist erst seit einigen Wochen dabei, weiß aber schon, dass man hier nicht immer auf alles eine Antwort braucht. „Nicht, was ihr denkt!“, ruft André. „Das riecht wie Fisch, der das Wochenende über offen im Kühlschrank stand.“ Wieder Gelächter, die Dose kommt in den Müll. Nach zehn Mi­nuten gehen die ersten rüber an den Wohnzimmertisch, setzen sich auf die Couch, rauchen und trinken Kaffee. Dann frisst der Fernseher wieder die Gedanken. Pawel, neben Albert einer von zwei polnischen Arbeitern, steht noch mal auf und zieht das gelbe Laken hoch, damit das Sofa nicht staubig wird. Ein Ruck geht durch die Reihe, jeder zupft kurz mit am Tuch, bis es wieder ­ordentlich liegt. Vieles hier klappt ohne Worte.


Es gibt auch kein Signal, das alle aus ihrer Ruhe reißt; es gibt niemanden, der sagt, dass es weitergehen muss. Es ist eine stille Übereinkunft, jeder kennt die Zeiten, und wenn der Erste aufsteht, kommen alle nach. Morgens um sieben geht’s los, um zehn ist Frühstück, halb elf geht es weiter, bis 14 Uhr, dann gibt es wieder Brot und Aufschnitt. Gekocht wird abends zu zweit, zwischen sechs und sieben ist Feierabend, oft auch später. Dann fährt einer der Männer einkaufen, meistens nach Arneburg, zehn Auto­minuten entfernt, Pfannkuchen, Schnitzel, Schmorkohl, Koteletts. Die Tage gleichen sich. Aber das Wetter verändert viel. Wenn die Sonne scheint, wird der Betonstaub fast unerträglich hell; Regen verwandelt alles binnen Sekunden in ein dumpfes Grau.

"Habt ihr Malaria in Rumänien?"

Nach dem Abendessen im Testhaus. Pawel und Albert, die beiden Polen, sind schon oben in ihrem Zimmer. André telefoniert einer neuen Dichtung hinterher, in einem der großen ­Meißel ist eine kaputtgegangen. Frank, Jürgen und Didel, ein Rumäne, gucken fern, es läuft ein französischer Film, ziemlich experimentell. Auf dem Schreibtisch neben dem Fernseher steht eine Packung Aspirin.
„Warum ist Arte an?“, fragt Jürgen.
„Weil, die haben nackte Frau gesehen“, sagt Didel, der sich aufs Sofa gelegt hat, nur in Unterhose. „Opa, warum du trinken Bitter Lemon?“, fragt er.
„Weil da Chemie drin ist“, sagt Jürgen, der schon 54 ist, „dann sticht mich keine Mücke, dann krieg ich kein Malaria. Habt ihr Malaria in Rumänien?“
Didel schimpft. Natürlich nicht. Für kurze Zeit vergessen die Männer den Fernseher, wollen wissen, was Rumänien von Deutschland unterscheidet, ob Didel vielleicht orthodox ist, weil er auch am Pfingstmontag da war.
„Quatsch! War nur, weil Chef da war“, sagt Didel.


Die Gespräche flackern oft nur kurz auf im Testhaus, häufig sind es Abrissanekdoten. Tabuthemen gibt es auch. Keiner der Männer weiß, was die anderen verdienen. Nach einer Weile sitzt Jürgen wieder draußen vor dem Haus. Er schläft als Einziger in einem Wohnwagen, der vorm Küchenfenster steht. So muss er sich nicht das Schlafzimmer mit einem Kollegen teilen. Bald kann er einen zweiten Wohnwagen dazuholen, er hat ihn von einer Bekannten gekauft, für 100 Euro. Warum er den braucht? Jürgen zuckt mit den Schultern. „Waste hast, haste, waste kriegst, das weißte nicht.“ Aufbauen will er sich hier nichts mehr, sagt Jürgen. Früher ist er öfter mal die sieben Kilometer nach Arneburg in die Kneipe gefahren, aber da waren auch immer nur dieselben Nasen. Freundschaften will er hier nicht mehr schließen, nur das eine ist wichtig: „Das Zusammenarbeiten, dass wir uns bei der Arbeit aufeinander verlassen können.“ Wie Cowboys, da weiß der eine auch, was der andere am anderen Ende der Herde macht. Und Cowboys haben auch wenig Gepäck, zwei Trennungen hat Jürgen hinter sich, zwei Mal ging er, nur mit Reisetasche. Hier, am Kernkraftwerk, braucht er auch nicht mehr.

Jeder hat seinen Kompromiss mit diesem Ort geschlossen

Natürlich hat Jürgen auch ein Zuhause, bei Halle an der Saale, dort lebt seine kleine Tochter; zwei weitere Kinder sind schon groß. Auch Paul und André haben Familie, mit der Zeit hier draußen in der Altmark arrangiert sich jeder auf seine Weise. André hat sich das Boot mitgebracht, er will einen Motor einbauen und am Wochenende an der Elbe im alten Hafenbecken damit fahren. Jürgen hat bald einen zweiten Wohnwagen. Und seine Badestelle: In einer alten Baugrube steht das Wasser metertief, und als er in einer der Hallen eine Treppe rausgestemmt hat, hat er sie ins Wasser gelegt, ganz sanft führt sie jetzt in den Teich. Frank, der wie Paul auch erst seit einigen Wochen dabei ist, freut sich auf seinen Schrank; er will nicht immer aus der Reisetasche leben.


Der nächste Tag beginnt wieder mit der Routine. Die Männer schwärmen aus nach Block 2, außer Didel, der hinterm Haus Moniereisen zerlegt; der Recyclingbetrieb, der sie abholt, akzeptiert nur eine bestimmte Länge. André macht sich auf den Weg nach Stendal, Diesel holen. Dafür hat er einen Tank auf dem Anhänger des großen Nissan-Pick-ups. 1000 Liter passen rein, er muss zwei Mal bezahlen gehen, weil die Zapfsäule nicht so viel Diesel auf einmal abgibt und zwischendrin stoppt. Für André, Anfang 30, ist Abriss ein Beruf. Dass er selten zu Hause ist, ist für seine drei Kinder normal. Die verrücktesten Sachen hat er erlebt, in Dortmund haben sie mal ein Hochhaus abgerissen, Stockwerk für Stockwerk, nur das Erdgeschoss sollte stehen bleiben, darin eine Bank, die weiterhin geöffnet hatte. Das war Filigranarbeit. Am Kernkraftwerk arbeitet er seit einem Jahr, und was zählt, ist die Aufgabe, nicht der Zweck, den die Gebäude einmal haben sollten. Die dicken Stahlwände der Sicherheitsbehälter, zwischen die meterdick der Beton gegossen ist, vermitteln noch heute eine Ahnung davon, welche Kräfte hier einmal gebändigt werden sollten. Aber kein Brennstab hat es je bis hierher an die Elbe geschafft. André ist das egal. Er hofft auf die schönen Tage. „Manchmal hast du gute Ecken, und das sind die, die abends nicht mehr da sind.“

Die guten Ecken sind die, die abends nicht mehr da sind

Als André vom Tanken zurückkommt, sitzen die Männer schon beim Frühstück. Die Gelegenheit ist günstig. Vor der Tür stehen viele Bauarbeiterstiefel, im Haus ist Hausschuhpflicht. Schnell wirft André ein bisschen vom Trockenfutter der beiden Wachhunde in einen Schuh. Als die Pause vorbei ist, brüllt Jürgen kurz über das Gelände, das Hundefutter fliegt durch die Luft. „Wer war das?“ Alle lachen, dann brummen die Bagger wieder. Tack! Tack! Tack!

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