- Anmelden, um Kommentare verfassen zu können
Neulich saß ich spätabends im gemütlichsten Sessel unserer an gemütlichen Sitzgelegenheiten reichen Behausung, eben in meinem Lieblingssessel. Ich entkorkte eine Flasche Rotwein. Nicht einfach irgendeine Flasche, nein. Ich hatte mich für einen Cabernet aus dem Friaul entschieden, den dritt- oder viertbesten Tropfen aus unserem Keller. Den besten, einen Premier Cru aus dem Haut Médoc, pflege ich nur zu besonderen Anlässen zu öffnen. Dieser Cabernet aus Colloredo di Prato indes schien mir für mein Vorhaben in der abendlichen Stunde einfach angemessen zu sein.
Die zehn wichtigsten Ereignisse meines Lebens
Mit Muße ließ ich das edle Gesöff ins Glas rinnen und lehnte mich behaglich zurück. Nun also war es so weit. Ich wollte mich der Frage widmen, welches die zehn wichtigsten Ereignisse meines Lebens gewesen sind. Ich nahm Block und Stift zur Hand und sammelte. Meine Geburt, meine Einschulung, mein erster Kuss, mein erster eigener Text (ein Gedicht), meine erste Liebesnacht, der Tag, an dem ich meine Frau kennen lernte, unsere Hochzeit, die Geburt unseres Sohnes. Mhmm. Alles unstrittig einschneidend und wichtig. Schwierig wurde die Sache, das stellte sich rasch heraus, wenn ich versuchen würde, diese Ereignisse in eine Rangliste einzuordnen.
Schon mit der Geburt hatte ich Mühe. Einerseits: Wäre ich nie geboren worden, würde ich gar nicht in der Verlegenheit sein, diese Rangliste aufzustellen. Andererseits konnte ich mich überhaupt nicht an meinen Eintritt in die Welt erinnern, verfügte lediglich über mehr oder minder präzise Informationen meiner Eltern. Fragezeichen.
Die Einschulung? Wichtig, aber von außen vorgegeben. Mein erstes Gedicht? Ich erinnere mich an die ersten beiden Zeilen: "Oh Mensch, gedenke Vietnam, fang was mit deinen Wünschen an" viel Moral wenig Versmaß, missglückter Endreim. Der erste Kuss? Peinlich! Die Auserwählte war nicht gerade entzückt von meiner ungestümen Attacke. Immerhin ereignete sich beides Kuss wie literarischer Erstling im legendären Jahr 1968, das für mich auf noch ganz andere Weise ein höchst bedeutsames war: Meine Eltern kauften einen Fernseher. Dieses Schwarz-Weiß-Gerät öffnete für mich das Fenster zur Welt. Die Bilder von den Studentenunruhen in Paris, Frankfurt und Berlin, vom Prager Frühling und seinem gewaltsamen Ende im August sind mir bis heute gegenwärtig.
Die ZDF-Hitparade ist die Mutter aller Ranglisten
Genau genommen war es dieser Fernseher, der dafür sorgte, dass ich nun hier saß. Am 18. Januar 1969 flimmerten über seine matte Scheibe die Bilder von jenem Ereignis, von dem damals niemand ahnte, wie sehr es befruchtend und bereichernd auf unsere gegenwärtige Kultur wirken würde: die ZDF-Hitparade, live aus Berlin, moderiert vom unvergleichlichen Stentor Dieter Thomas Heck. Auf Platz eins landete in der ersten Sendung Roy Black mit "Ich denk an dich", abgeschlagen im Feld tummelten sich Größen wie Rex Gildo, Karel Gott und Bata Illic.
Die ZDF-Hitparade ist die Mutter aller Ranglisten. Unvergessen bleibt Hecks regelmäßiger Ausruf: "Sie wissen, dreimal dabei, darf nicht mehr gewählt werden!" Endlich hatte die Demokratie die elitäre Zunft der Kritiker beiseite gefegt. Die Mehrheit entscheidet, was gut ist. Daran musste ich denken, als eben jenes ZDF "Unsere 50 Besten" feierte, die beliebtesten Bücher der Deutschen. Es gewann Tolkiens "Herr der Ringe", auf Platz zwei die Bibel, gefolgt von Ken Follets "Säulen der Erde". Ganz hinten Thomas Mann und Günter Grass, keine Spur von Dostojewski, Heinrich Mann und John Updike. Ungerecht vielleicht, aber ein Urteil im Namen des Volkes.
Ich ließ mein Leben Leben sein und begann eine neue Rangliste: Die zehn wichtigsten Fortschritte des Fernsehens. Auf Platz eins: die ZDF-Hitparade. Sie lebt, ohne Schlager und leider mit Johannes B. Kerner statt mit Dieter Thomas Heck.