Gegen die evangelische Freiheit war das SED-Regime im Herbst 1989 wehrlos. Auch wir Westjournalisten verstanden nichts
Lena Uphoff
15.11.2010

Zwei deutsche Staaten. Klare Sache. Realpolitik. Als Erich Honecker 1987 nach Bonn kam, schien uns Medienkorrespondenten in der Bundeshauptstadt der letzte Zweifel daran getilgt. Wir waren dabei, als der Genosse Generalsekretär mit seligem Lächeln die Flagge mit Hammer und Zirkel überm Bonner Kanzleramt flattern sah. Und wir lasen aus der säuerlichen Miene Helmut Kohls die Parole des Tages: Den Tatsachen ins Auge sehen! Kein sentimentaler Blick zurück!

Dann begann dieses seltsame Jahr 1989. Im Juni tauchte Gorbatschow am Rhein auf, zusammen mit Frau Raissa. Die Rheinländer auf dem Bonner Markt verwandelten sich in "Gorbi, Gorbi" jubelnde Volksmassen. Meine Zeitung, die "Kölnische/Bonner Rundschau", jubelte mit. Aber noch immer war uns journalistischen Profis klar: Eher wird der Papst evangelisch, als dass sich an der deutsch-deutschen Wirklichkeit etwas verändert.

Der Strom der Republikflüchtlinge über Ungarn schwoll an.

Ich fuhr nach Gießen ins Notaufnahmelager und redete mit einigen von ihnen. Eine Hotelfachfrau aus Thüringen schluchzte: "Ich werde meine Eltern erst dann wiedersehen, wenn Deutschland vereinigt ist." Das rührte mich. Dass ich diesen Traum für hoffnungslos absurd hielt, traute ich mich nicht auszusprechen.

Als Anfang Oktober Tausende Botschaftsflüchtlinge per Sonderzug aus Prag via Dresden in den Westen fuhren, dachten wir: Die DDR läuft leer. Wir fürchteten, Honecker und Mielke würden nun Ernst und den anderen deutschen Staat zu einem Platz des himmlischen Friedens machen, getreu dem von Egon Krenz bewunderten chinesischen Beispiel. An eine Revolution, eine friedlich verlaufende noch dazu, verschwendete keiner von uns nur einen Gedanken.

Und dann wirkte die "evangelische Freiheit", wie es Rainer Eppelmann nannte, in Berlin, in Jena, in vielen Kirchen zwischen Ostsee und Vogtland, vor allem aber in der Leipziger Nikolaikirche. Gegen diese Freiheit war das SED-Regime letztlich wehrlos.

Evangelische Freiheit? Staatsapparat und Stasi registrierten, wie landauf, landab Friedenskreise und Freiheitsgruppen in den Kirchengemeinden entstanden oder ein Zuhause fanden. Die Mächtigen bestellten die Leute von der Kirchenleitung ein und forderten sie auf, den Unfug abzustellen. Was sie vielfach auch von durchaus verständnisvollen Gesprächspartnern zur Antwort erhielten, passte mit ihrem eigenen Weltbild so gar nicht zusammen: "Wir können versuchen, mit den Brüdern und Schwestern ernsthaft zu sprechen, mehr geht eigentlich nicht." Wer sich auf die Heilige Schrift beruft und für Frieden, Freiheit und Menschlichkeit betet, könnte daran selbst von einer staatstreuen Führung nicht gehindert werden. Evangelische Freiheit.

Uns Westjournalisten ging es ja nicht viel besser als den SED-Bonzen. Diese apolitischen Pastoren mit Apostelbart und ihre ungeschminkten Kolleginnen in praktischen Allwetterjacken hatten so gar nichts von revolutionärer Boheme an sich. Als wir sie im Herbst 1989 entdeckten, fanden wir keinen und keine, dem oder der wir das Prädikat Revolutionsführer hätten anheften wollen. Nicht einmal eine Art Lech Walesa fand sich unter ihnen.

Aber genau diese Vielgestaltigkeit, ihr Mangel an "konterrevolutionärer" Erkennbarkeit, diese vermeintliche Schwäche, erwies sich als Stärke, weil man sie nicht mit Panzern und Gewehren, nicht mit Strafexempeln und Verschwörungslegenden bekämpfen konnte. In den Kirchen herrschte im Sinne des Wortes ein anderer Geist. Das haben wir Bonner Profis erst recht spät und die alten Männer in Ostberlin überhaupt nicht begriffen.

Wir rieben uns die Augen, als aus wenigen viele wurden

Vom Montagsgebet zur Montagsdemo. "Wir sind das Volk" und "Keine Gewalt". Wir rieben uns die Augen, als die Bilder vom Leipziger Ring in der Nacht des 9. Oktober über unsere Fernseher flimmerten. Auch nach zwanzig Jahren wirkt wie ein Wunder, wie aus wenigen viele wurden, wie die Angst verschwand und der Geist der Freiheit zu wehen begann, wo er wollte.

Gott sei Dank!

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