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Als unser ältester Sohn erst zwei Jahre alt war, lebten wir noch in der Stadt.
Unsere Wohnung war im ersten Stock eines Mehrfamilienhauses. Die Straße war recht eng, alles war asphaltiert. Im Sommer war es unerträglich heiß. Wir haben alle Fenster aufgerissen. Und jeden Abend, wenn es Bettgehzeit war, hat unser Sohn noch einmal aus dem Fenster geschaut und gesagt: „Gute Nacht, Nackidei-Mann.“
Der Nackidei-Mann wohnte gegenüber in einer Dachgeschosswohnung. Bei ihm war es bestimmt noch heißer als bei uns. Und so stand oder saß er sehr viel und sehr lange am offenen Fenster. Zu sehen war dabei immer sein runder, braungebrannter, nackter Bauch. Ob er unten herum etwas anhatte, konnte man zum Glück nicht sehen.
Aber unser Sohn fand den Nackidei-Mann auch überhaupt nicht komisch.
Er hat einfach dazugehört, so wie der orangene Kehrwagen, der fast jeden Tag unter unserem Haus den Dreck von der Straße geschrubbt hat. Da es jetzt wieder schön heiß wird und die Menschen in all ihrer Unterschiedlichkeit mehr von sich preisgeben, musste ich nun wieder an die Sommer in der Stadt denken.
Natürlich kann man den Nackidei-Mann creepy finden. Kann er sich nicht etwas anziehen? Aber das ist Erwachsenendenken. Und Kindersätze zeigen immer wieder, dass man das nicht durcheinanderbringen sollte. Der Mann hat ja nun wirklich nichts weiter gemacht als sich am offenen Fenster durch den ohnehin sehr lauen Wind ein ganz klein wenig Abkühlung zu verschaffen.
Ein nackter Bauch ist nun wirklich nichts Verbotenes, eigentlich einfach etwas völlig menschlich-alltägliches. Und die Reaktion unseres Sohnes hat gezeigt, dass ein Kind sich nichts dabei denkt, sondern einfach freundlich ist und sich jeden Abend wieder gespannt fragt, ob der halbnackte Mann wieder da ist, und ihm dann beruhigt, dass alles ist wie immer, über die klirrendheiße Straße ein „Gute Nacht Nackidei-Mann“ zuruft. Er durfte aber nie so laut sein, dass der Mann es hören konnte. Das war uns peinlich.
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Der Liedermacher Rolf Zuckowski hat das Lied Nackidei geschrieben – das unsere Kinder irgendwo mal aufgeschnappt haben und seitdem immer mal wieder zitieren oder hören wollen. Da singt der Liedermacher: „Der Eber sagt zu seiner Frau, hör zu, du süße kleine Sau, wir machen heut ne Schweinerei, und geh'n mal wieder Nackidei. Nackidei, Nackidei, alle sind heut Nackidei. Nackidei, Nackidei und keiner findet was dabei.“
An was denken Sie, wenn Sie das hören? Ich kann dieses Lied nicht hören, ohne es zweideutig zu verstehen. Aber auch das ist Erwachsenendenken. Jedenfalls finden meine Kinder das Lied einfach nur lustig und tanzen dazu vergnügt herum.
In einem Interview mit der Wochenzeitung "Die Zeit" hat Zuckowski mal erzählt, dass er einen Brief von Kindern bekommen habe. Die haben geschrieben: „Unser Pfarrer ist gestorben, das ist traurig, aber nun dürfen wir das Lied Nackidei wieder singen.“ Ich stelle mir vor, wie die Kinder in der Kita das Nackidei-Lied hören wollen und der Pfarrer hochrot wird und immer wieder ruft: "Nein, das geht nicht". Es ist sehr verständlich, dass der Pfarrer damit nichts zu tun haben wollte. Aber die Kinder fanden es wahrscheinlich einfach nur zum Lachen. Das Lied und den Pfarrer.
Vielleicht steht der Nackidei-Mann auch diesen Sommer wieder am Fenster. Als ich meinem Sohn von diesem Text erzählt habe, hat er gelacht. Ich glaube, ich schlage ihm vor, an einem heißen Abend in diesem Sommer an unserem alten Haus vorbeizufahren. Und wenn der Mann dann am Fenster steht, sagen wir ganz leise: „Gute Nacht, Nackidei-Mann“.