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Viele Jubiläen werden groß gefeiert, andere gar nicht beachtet, obwohl sie auch ein Licht auf unsere Gegenwart werfen. Das ist ungerecht. Am 9. Oktober jährte sich die erste moderne Feuerbestattung in Deutschland zu 150. Mal!
Was zunächst vielleicht nur makaber wirkt, ist bei Lichte betrachtet ein epochales Ereignis. Darauf aufmerksam gemacht hat mich Tobias Pehle, Geschäftsführer des Kuratoriums Immaterielles Erbe Friedhofskultur. Mit ihm habe ich in den vergangenen Jahren intensiv zusammengearbeitet. Nun hat er in der Zeitung des Deutschen Kulturrates einen Artikel veröffentlicht, aus dem ich viel gelernt habe.
Am 9. Oktober 1874 also trat die deutsche Friedhofskultur in die Moderne ein. In seinem Dresdner Glaswerk hatte Friedrich Siemens gemeinsam mit seinem Chefingenieur Richard Schneider einen speziellen Ofen entwickelt, der menschliche Leichen effektiv in Asche verwandelte. Zum ersten Mal wurde er an der Engländerin Katherine Dilke ausprobiert, die sich diese Bestattungsart gewünscht hatte. In schneller Folge entstanden in Europa Vereine für Feuerbestattung. 1876 fand in Dresden ein erster Kongress statt. Das erste deutsche Krematorium wurde am 10. Dezember 1878 in Gotha eröffnet (es ist immer noch in Betrieb).
An der Geschichte der Feuerbestattung kann man die religiösen, gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der Moderne nachvollziehen. Ursprünglich war das Krematorium die technische Antwort auf die Überbevölkerung der neuen Massenstädte. Auf herkömmliche Weise hätten all die Toten gar nicht anständig beerdigt werden können. Urnengräber aber benötigten weniger Platz, kosteten weniger und waren hygienischer, denn eine Verwesung fand nicht mehr statt.
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Doch die Feuerbestattung bildete auch das Zentrum von Weltanschauungskämpfen. Sie wurde zum Mobilisierungsinstrument der Arbeiterbewegung im Kampf gegen die religiöse Kultur der herrschenden Klasse. Die katholische Kirche hielt heftig dagegen (die evangelische etwas weniger intensiv) und beschwor den Glauben an die leibliche Auferstehung. Doch in der Not des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik setzte sich die Feuerbestattung durch. Feuerbestattungskassen als Solidargemeinschaften ermöglichten nun vielen Menschen eine menschenwürdige Beisetzung der Asche ihrer Verstorbenen.
Das Krematorium steht aber auch für die Schattenseite des Fortschritts. Der epochale Menschenmassenmord der NS-Diktatur ließ sich nur durchführen, die Millionen Leichen ließen sich nur spurlos beseitigen, weil es in den Konzentrations- und Vernichtungslagern leistungsstarke Krematorien gab.
Nach 1945 spaltete sich auch die Friedhofskultur in Ost und West. Die DDR knüpfte an die Wertschätzung der Feuerbestattung in der Arbeiterbewegung an. Der Westen orientierte sich stärker an kirchlichen Vorgaben und öffnete sich erst langsam für den Fortschritt. In der katholischen Kirche wurde die Feuerbestattung erst 1963 auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil erlaubt.
Heute ist sie Teil eines marktwirtschaftlichen Bestattungswesens, für die Anbieter ein gutes Geschäft, für die Kunden eine preisgünstige Alternative. Ideologische Gründe spielen keine große Rolle mehr. Es geht daher darum, eine praktische Lösung zu finden. In 75 Prozent aller Fälle entscheiden sich die Menschen in Westdeutschland für eine Feuerbestattung, in den östlichen Bundesländern ist Quote höher. Und doch ist die Alternative "Sarg oder Urne?" immer noch eine höchstpersönliche Frage, geprägt von intimsten Gefühlen, Glaubensvorstellungen oder auch Empfindungen von Ekel oder Angst.
Wie wird die Geschichte der Feuerbestattung weitergehen? Das lässt sich nicht absehen. Auch, weil die ökologische Frage dazugekommen ist. Denn die Verbrennung verbraucht deutlich mehr Energie, zudem erscheint sie als umweltschädlicher: Die Filter der Öfen müssen wegen all dem, was Menschen an Medikamenten und Ersatzteilen in sich tragen, als hochgiftiger Sondermüll entsorgt werden.