Umweltschäden besser abbilden
"Ich bin eine grüne Null"
2015 dachte der Unternehmer Dirk Gratzel: Wenn ich mal sterbe, will ich keine Umweltschäden hinterlassen. Am 21. September kippt seine Bilanz ins Positive. Ist er ein Modell für den Klimaschutz?
"Ich bin eine grüne Null"
Dirk Gratzel vor einer renaturierten Fläche im Ruhrgebiet
Greenzero
Tim Wegner
15.09.2025
8Min

Knapp zehn Jahre ist es her, dass Sie den Entschluss gefasst haben, am Ende Ihres Lebens keine Umweltschulden zu hinterlassen. Wie kommt man auf so eine Idee?

Dirk Gratzel: Ich komme aus dem Arbeitermilieu und hatte als Ehemann und Vater die Vorstellung, dass es meiner Familie materiell möglichst gut gehen müsse. Oder, in saloppem Ruhrgebietsdeutsch: "Der Junge soll et mal besser haben als wir!" – das war ein ganz starkes und prägendes Motiv. Wir haben fünf Kinder, drei Jungs, zwei Mädchen. In vielen Gesprächen mit meinen Kindern – besonders auch, als sie in der Pubertät waren – habe ich festgestellt, dass das Materielle für sie bei weitem nicht die Rolle spielte, die ich vermutet hatte. Mit 18 den Führerschein machen? Irrelevant! Meine Kinder haben sich teilweise vegetarisch und vegan ernährt, Secondhand eingekauft und zogen später in WGs statt in eigene Wohnungen. Das hat mich nachdenklich gemacht.

Viel Reichtum wird vererbt, Sie haben sich hochgearbeitet. Wie haben Sie das geschafft?

Ich stamme aus einer Bergarbeiterfamilie im Essener Norden, mein Opa und meine Onkel mütterlicherseits waren alle unter Tage. Mein Vater ist gelernter Maurer und Schlosser. Ich habe als Erster in meiner Familie Abitur gemacht und Jura studiert, dazu noch Wirtschaft. Ich habe eine Anwaltszulassung und arbeitete zunächst in der Automobilwirtschaft, bevor ich mich selbstständig machte.

2016 änderten Sie Ihr Leben, das war kurz vor Greta Thunberg und Fridays for Future.

Dass sich die Menschheit die Ökosysteme nicht zum Besseren verändert, hatte ich natürlich mitbekommen. Irgendwann fragte ich mich: Welche Verantwortung trage ich eigentlich? Was hat das mit mir zu tun? Letztlich war es eine Kombination verschiedener Entwicklungen: Der Diskurs mit meinen Kindern, die mediale Berichterstattung über den Zustand der Biosphäre und die immer selbstkritischere Beobachtung meines eigenen Lebensstils.

Was meinen Sie damit?

Ich bekam schlicht ein schlechtes Gewissen, wenn ich am Flughafen die riesigen Tankwagen vorbeifahren sah, die die Flugzeuge betankten, mit denen ich flog. Ich wollte nicht am Ende meines Lebens damit konfrontiert sein, dass ich eine ökologische Riesensauerei angerichtet hatte. Ich habe jede Menge Emissionen verursacht, Ressourcen verbraucht und Müll hinterlassen. Und die Jüngeren sollen sehen, wie sie damit klarkommen? Ich glaube, da würde ich sehr beunruhigt sterben!

Dirk Gratzel

Dirk C. Gratzel ist Unternehmer und promovierter Rechtswissenschaftler. Als erster Mensch berechnete er seine Ökobilanz. Gratzel ist Gründer der GREENZERO GmbH, die Kommunen, Unternehmen und Organisationen auf dem Weg zur grünen Null begleitet.

Waren diese Gedanken auch motiviert von religiösen Überzeugungen?

Ja, mein Glaube an Gott ist das stabilste Fundament meiner Existenz, und das bringt es mit sich, dass ich die Natur als Schöpfung betrachte und mein eigenes Verhalten zunehmend als sehr respektlos gegenüber dieser Schöpfung und gegenüber dem Schöpfer erachtet habe.

Viele Menschen dürften so empfinden, aber die wenigsten stellen dann ihr ganzes Leben auf den Kopf…

Ich habe eine Neigung: Wenn ich etwas mache, versuche ich es immer, es richtig zu machen. Als mir klar wurde, möglichst noch zu meinen Lebzeiten den ökologischen Rucksack auf meinen Schultern loszuwerden, war klar, dass ich das dann auch richtig mache. Aber es gab damals überhaupt keine Methode, meinen ökologischen Fußabdruck in all seinen Facetten zu fassen.

Angebote wie Atmosfair oder die Klima-Kollekte waren bestimmt schon verfügbar?

Ja, es gab CO2-Rechner, aber sie bezogen sich nur auf Treibhausgase aus Flügen und Reisen. Die sind wichtig, aber beileibe nicht die einzige Umweltwirkung, die wir verursachen. Also schrieb ich weltweit Forschende an. Matthias Finkbeiner, Professor für Technischen Umweltschutz an der TU Berlin, meldete sich, sein Team hatte Lust, die Ökobilanz eines Menschen zu ermitteln. Wir lernten uns kennen und ich lernte von Matthias: In Japan hatte man bereits versucht, so eine Bilanz aufzustellen, war aber gescheitert.

Warum?

Die Probanden hatten irgendwann keine Lust, all die Daten aus ihrem Leben zu sammeln und aufzuschreiben, die es dafür braucht. Ich dachte: Naja, so schlimm kann es ja nicht sein. Aber es war tatsächlich eine unfassbare Datensammelaktion. Ich musste meinen Alltag feinsäuberlich dokumentieren - jede Tasse Kaffee, jedes Stück Brot, alles, was ich gegessen, getrunken, irgendwie konsumiert hatte. Nicht nur, dass ich eine Tasse Kaffee getrunken hatte, sondern auch, was für ein Kaffee das war, woher er kam und wie er verpackt war…

Oje!

Ich habe meinen gesamten häuslichen Besitz in Excel-Listen eingetragen und versucht, die Vergangenheit zu rekapitulieren: In welchen Wohnungen lebte ich, wie groß waren die, hatten wir eine Gasheizung oder - wie früher noch – eine mit Koks, Kohle und Briketts? Welche Autos und Motorräder bin ich gefahren und wie oft bin ich ungefähr geflogen? Im Zweifel rundete ich auf, um die Bilanz nicht zu beschönigen, damit ich sicher sagen konnte, dass mein Fußabdruck alles umfassen würde, was ich jemals verursacht habe.

Und wie lautete das Ergebnis?

Bis 2016 hatte ich 1.150 Tonnen CO2 emittiert. Um den Pariser Klimaschutzzielen gerecht zu werden, hätten es nicht mal 100 Tonnen sein dürfen, in meinem ganzen Leben. Wir haben meine Umwelteinwirkungen in Umweltkosten umgerechnet, das ist ja auch plastischer und leichter beschreibbar. Bis heute beträgt der Umweltschaden etwa 300.000 Euro, 2017 waren es noch weniger, aber wir aktualisieren die Zahl immer.

Lesetipp: Kann der Emissionshandel das Klima retten? Ein Interview mit einer Expertin von "Germanwatch"

Und dann? Was haben Sie mit dieser Erkenntnis gemacht?

Ich habe verschiedene Maßnahmen ergriffen, meine jährlichen Umweltkosten zu verringern, beispielsweise fliege ich nicht mehr. Seitdem sind meine Emissionen um ungefähr 60 bis 80 Prozent zurückgegangen, je nach Wirkungskategorie.

Wirkungskategorie?

Das können zum Beispiel der Wasserverbrauch oder eben die Treibhausgasemissionen sein. Mein Fußabdruck ist also viel kleiner geworden, ich bin heute besser als der Durchschnittsdeutsche, aber ich verursache immer noch einen Umweltschaden.

Geht es Ihnen 60 bis 80 Prozent schlechter, weil Sie Verzicht üben mussten?

Schon vor diesem Projekt hätte ich gesagt: Ich habe ein exzellentes Leben. Dieses Leben ist nun deutlich reicher geworden, weil ich viele Dinge gelernt habe und viel zufriedener bin. Das würde ich jedem Menschen wünschen.

Aber für viele ist es erstrebenswert, in die Ferne zu fliegen...

Das stimmt, natürlich leben wir in einer kapitalistischen, materiellen und konsumorientierten Welt. Unsere Prägung darauf sitzt dementsprechend tief. Auf der anderen Seite hat aber auch fast jeder Mensch schon gespürt, dass das Glücksgefühl nach einer Shoppingrunde meistens nur eine sehr kurze Halbwertszeit hat. Eigentlich wissen wir alle, dass die wirklich wichtigen Dinge im Leben nicht materiell sind: Liebe, Freundschaft, Loyalität, Glück, Spaß. Vielleicht will ich nicht immer nur spazieren gehen, sondern auch mal Fußball spielen, dann brauche ich einen Ball und ein paar Fußballschuhe. Aber Glück und die Lebenszufriedenheit liegen nicht in den Dingen, sondern in uns.

Mittlerweile haben Sie Ihre Umweltbilanz nicht nur verbessert, sondern laut der Forschenden, die Sie begleiten, ist Ihre Umweltbilanz am 21. September ausgeglichen und kippt danach ins Positive. Wie haben Sie das geschafft?

In der Ökologie gibt es den Begriff Kompensation, auch wenn er manchmal nicht gut gelitten ist. Es gibt ja keine Restitution, wenn ich etwas kaputt gemacht habe, kann ich bei Naturschäden das Original nicht wieder herstellen. Das sehen wir mit jedem schmelzenden Gletscher.

Also?

Die Idee war, an einer Stelle, an der keine werthaltige Natur mehr existiert, neue Natur zu schaffen. Ich habe das Bergwerk Polsum gekauft, zwei Flächen in Marl im Landkreis Recklinghausen. Das Bergwerk ist teils vom früheren Bergwerksbetreiber, teils von mir zurückgebaut worden. Die Fläche wird von Forschenden minutiös beobachtet. Die Wissenschaftler haben eine Methode entwickelt, die die ökologische Aufwertungsleistung misst - ebenfalls in Geld. Man nennt das Umweltwert. Das wird verrechnet, und bald bin ich eine grüne Null. Das heißt nicht, dass die Schäden der Vergangenheit nicht stattgefunden hätten, aber ich kann diesen Schäden der Vergangenheit aus Sicht der Natur etwas Positives gegenüberstellen.

"Der Bürgergeldempfänger fährt nicht mit der Yacht in den Urlaub."

Dirk Gratzel

Die wenigsten Menschen können eine alte Zeche kaufen und renaturieren. Was sagen Sie denen, die Ihnen vorhalten: "Toll, was Sie machen, aber an Ihnen kann man sich eben leider kein Beispiel nehmen, Herr Gratzel?"

Das ist eine berechtigte Frage. Ich glaube, es braucht beides, den individuellen Beitrag und den kollektiven. Was den individuellen Beitrag angeht, ist es so, dass die sozioökonomisch erfolgreichsten zehn Prozent in unserer Gesellschaft 80 Prozent des Problems durch ihren Lebensstil verursachen. Der Bürgergeldempfänger fährt nicht mit der Yacht in den Urlaub. Diese zehn Prozent, die in Unternehmen und Organisationen in hohem Maße Verantwortung tragen und sehr stark vom Wohlstandsniveau der Gesellschaft profitieren, haben eine individuelle Verantwortung. Ich finde, die kann man gerade als Christ auch nicht einfach wegschieben.

Und was ist mit dem kollektiven Beitrag – und was ist das überhaupt?

Das ist der gesellschaftliche Rahmen, die Strukturen, in denen wir leben. Und die machen etwas, von dem wir schon lange wissen, dass es fatal und falsch ist. Das Gute ist: Das zu ändern, ist eigentlich gar nicht so schwierig.

Nämlich?

Wenn wir uns als Gesellschaft entscheiden würden, die Umweltkosten in die Produkt- und Dienstleistungspreise zu internalisieren, muss man das Geld, das man so einnimmt, wieder in die Renaturierung reinvestieren. Die EU hat sich verpflichtet, 30 Prozent der zerstörten Ökosysteme bis 2030 wiederherzustellen. Dafür braucht es irre viel Geld. Wenn Sie die nächste Tube Zahnpasta kaufen und die kostet nicht mehr 1 Euro, sondern 1,05 Euro, weil die Umweltkosten der Tube Zahnpasta internalisiert werden, hätten wir 5 Cent, um zu renaturieren.

Das träfe ärmere Menschen, die anteilig viel mehr für den Kauf von lebenswichtigen Gütern ausgeben müssen, viel stärker als die Reichen!

Das eine Frage des Sozialstaates – und ja, der müsste unbedingt unterstützen. Aber diese Frage muss man aber im Rahmen der Sozialstaatsdiskussion lösen, nicht in der Ökologie. Und: Die jetzigen Umweltkosten entstehen, sie sind da, belasten uns, aber derzeit geht das zulasten zukünftiger Generationen. Das ist auch nicht gerecht. Wir müssen das bezahlen!

Über welche Summe reden wir?

In Deutschland verzeichnen wir jedes Jahr Umweltschäden von 250 bis 300 Milliarden Euro, die wir über die Preise abbilden müssen. Zum Vergleich: Wir haben eine Brutto-Wirtschaftsleistung von vier Billionen Euro pro Jahr, reden also über sechs bis sieben Prozent unserer gesamten Wirtschaftsleistung. Die Internalisierung der Umweltkosten wäre eine Lösung, die alles verändert, auch weil es interessante Effekte gäbe.

Welche zum Beispiel?

Die Bio-Gurke wäre billiger als die konventionelle. Dass die Bio-Gurke heute teurer ist als die konventionelle, liegt daran, dass der konventionelle Gurkenproduzent von einer Gesellschaft profitiert, die sagt: "Wenn du die Umwelt kaputt machst, scheißegal!" Das ist die Logik in unserem System. Und wenn man die ändert, ändert sich alles, aber man kann trotzdem weiter kapitalistisch und marktwirtschaftlich arbeiten. Man muss eigentlich nur minimalinvasiv in das Wirtschaftssystem eingreifen und unsere Güter und Dienstleistungen fair bepreisen. Ich habe diesen Schritt für mich schon vorweggenommen. Diese Veränderung einzufordern, das ist die Verantwortung aller. Und das kann jeder, ob reich oder arm.

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Kolumne

Nils Husman

"Wir müssen die Schöpfung bewahren!“ Da sind wir uns alle einig. Doch was heißt das konkret? Nils Husmann findet, wer die Schöpfung bewahren will, sollte wissen, was eine Kilowattstunde ist oder wie wir Strom aus Sonne und Wind speichern können – um nur zwei Beispiele zu nennen. Darüber schreibt er - und über Menschen und Ideen, die Hoffnung machen. Auch, aber nicht nur aus Kirchenkreisen.