Wie viel Höflichkeit kann man verlangen?
15.11.2010

Eis legt sich in Sekundenschnelle über New York ­ links neben mir raschelt jemand in einer Tüte mit Gummibärchen. In der Stadtbibliothek der amerikanischen Metropole erkennt ein junges Paar erstmals die gegenseitige Zuneigung ­ meine rechte Nebenfrau schnurpst genüsslich ihr Popcorn weg. Rettungshubschrauber erheben sich über Wolkenkratzer, um Überlebende der Klimakatastrophe zu retten ­ hinter meinem Rücken schlürft ein Teenager seine Cola aus. Die Frage "Wo bin ich?" lässt sich leicht beantworten: Im Kino ­ in "The day after tomorrow". Schmatz- und Schluckorgien im Dunkeln sind ebenso ein Akt von Unhöflichkeit wie Handys im Restaurant, deren geschwätzige Besitzer einem den Genuss des Essens verderben. Rücksichtslos verhält sich, wer die Frage nach Weg oder Uhrzeit ohne "bitte" stellt und die Auskunft nicht mit "danke" quittiert. Freche Anrufer halten sich an keine "Sperrstunde"; oder am Telefon erkundigt man sich: "Ist der Peter da?" Eine Herausforderung für den Rüpel am anderen Ende der Leitung, wenn man nur mit "Ja" antwortet...

Junge, smarte Geschäftsleute lassen sich in Flieger wortlos in den Sitz plumpsen

Junge, smarte Geschäftsleute lassen sich in Flieger und Bahn wortlos in den Sitz plumpsen und blicken pikiert auf, wenn man grüßt. Neu ist diese zwischenmenschliche Klimakatastrophe nicht. Schon in Goethes Faust äußert sich ein Schüler ruppig gegenüber Mephistopheles. Der weist ihn zurecht: "Du weißt wohl nicht, mein Freund, wie grob du bist?" Der Schüler erwidert lässig: "Im Deutschen lügt man, wenn man höflich ist." Es ist aber ein Irrtum zu meinen, dass nur das Unbändige das allein Wahre sei. Wer unhöflich ist, mutet sich und seine schlechte Laune anderen einfach zu! Der Rüpel lebt ohne Bezug auf den Mitmenschen, ist sich oft gar nicht im Klaren, dass er den Respekt für das Gegenüber vermissen lässt. Der höfliche Mensch bedenkt, was eigenes Reden oder Tun bei anderen Menschen auslöst. Ein Handkuss mag so verzichtbar sein wie die Aufforderung, den Teller leer zu essen. Aber einem älteren Menschen keinen Platz anzubieten oder andere mit offenem Rachen anzugähnen ist schlicht unangenehm. Natürlich ist Höflichkeit dann fragwürdig, wenn jemand nur oberflächlich anerzogene Regeln befolgt. Oder wenn Höflichkeit als Form der Unterdrückung gebraucht wird, mit der man natürliche Lebensäußerungen verstümmelt. Kinder werden zum Schweigen gebracht, weil Oma ihre Migräne hat, die merkwürdigerweise immer dann ausbricht, wenn die Kleinen gerade fröhlich spielen wollen. Früher sprach man Französisch, um Dritte von Gesprächen auszugrenzen ­ ein besonders unhöflicher Snobismus.

Ausgesuchte Höflichkeit bedeutet zu zeigen, dass der andere einem wichtig ist

Ausgesuchte Höflichkeit bedeutet, einander eben nicht außen vor zu lassen, sondern sich auf gleicher Augenhöhe zu begegnen: zeigen, dass der andere einem wichtig ist. Freiherr von Knigge meinte in seinem (noch) bekannten Buch, dass Benimm auf Pflichten gegründet ist, "die wir allen Menschen schuldig sind und wiederum von ihnen fordern können". Wenn man die Todesanzeige für den eigenen Vater aufgibt und eine Angestellte der Zeitung mokiert sich über den Text oder wenn eine Reklamation über eine falsche Rechnung ohne Entschuldigung entgegen genommen wird: Dann ist es notwendig, ein klares Wort zu sprechen. Nur hilft es kaum, dies grob zu tun ­ eigene Flegelhaftigkeit wird andere nicht überzeugen. Man muss höflich, aber unmissverständlich zum Ausdruck bringen, wie empörend und persönlich verletzend man den Vorgang findet. Höflichkeit braucht Vorbilder. Sie braucht die Erfahrung, dass es nicht nur besser ankommt, kultiviert aufzutreten, sondern dass es auch lebensdienlich ist. Wer höflich ist, möchte sich und anderen ein im umfassenden Sinn gepflegtes Leben ermöglichen. Man denke an Krankenhäuser und Altenheime: Höflichkeit trägt dazu bei, dass schwache, hilflose Menschen nicht Macht zu spüren bekommen, sondern liebevolle Achtsamkeit, Ehrfurcht vor dem Leben in seiner zerbrechlichsten Form. Wer unhöflich ist, beraubt sich selbst der Möglichkeit, wahrhaft menschlich zu sein. Mag sein, dass man nicht immer Lust auf Höflichkeit hat. Muss ich jedem Spaziergänger ein fideles "Grüß Gott" zurufen? Muss ich in der Firma "Mahlzeit" schmettern, obwohl mir gerade der Appetit vergangen ist? Vielleicht genügt ja manchmal ein knappes Kopfnicken. Eigene Höflichkeit nimmt nicht Maß an der anderer ­ sie ist sich selbst genug. Nie, niemals vergessen: Höflichkeit in der Ehe. Wer ungebremst alle Arten von Lebensgeräuschen von sich gibt, zu Hause nachlässig mit seinem Äußeren umgeht, kontinuierlich auf Dank und Lob verzichtet, der avanciert zum unwiderstehlichen Liebestöter. Charme und ein wenig Galanterie dagegen erhalten jede Beziehung, besonders aber die Liebe am Leben. Es ist einfach wunderbar, über die notwendige Kommunikation hinaus beim Partner (Herzens-)Takt und Stil zu erleben. Max Frisch schrieb in seinen Tagebüchern: "Das Höfliche, oft als leere Fratze verachtet, offenbart sich als Gabe der Weisen." Höflichkeit macht es möglich, dass man nicht ständig mit der Unmittelbarkeit anderer Menschen konfrontiert und das eigene Leben damit seelischen Übergriffen ausgesetzt ist. Der wahre Grund, höflich zu sein, kann nur Achtung vor Mitmenschen sein, Zuneigung oder Liebe. "Der Weise, der wirklich Höfliche, ist stets ein Liebender", sagt Max Frisch. Dem ist nichts hinzufügen. 

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