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Tja, sagt die Tante, traurig. Da hättest du beinahe einen größeren Bruder gehabt - und dann wurde es nichts. Die Nichte ist wie vor den Kopf geschlagen. Bislang hat sie sich für ein Einzelkind gehalten. Hatte ihre Mutter eine Abtreibung? Eine Totgeburt? Warum hat sie nie etwas erzählt? Die junge Frau geht verstört und verletzt nach Hause. In einer Zeit, in der in den Medien genüsslich intimste Details privater und öffentlicher Personen ausgebreitet werden, gibt es nach wie vor streng gehütete familiäre Geheimnisse.
Verschwiegen werden kann ein behindertes Kind, das im Heim lebt, der Seitensprung der Großmutter, Homosexualität des Vaters, eine üble Nazivergangenheit der Mutter, Drogensucht der Tochter oder Selbstmord des Sohnes. Das Geheimnis wird von einem Familienmitglied allein oder vielleicht zusammen mit einer Freundin bewahrt: Wenn etwa ein Kind dem "falschen" Vater untergeschoben wurde. Ein furchtbares Geheimnis wie Inzest dient der Unterdrückung der ganzen Familie durch den Täter.
Familiengeheimnisse bestimmen unausgesprochen die Beziehungen
Familiengeheimnisse bestimmen unausgesprochen die Beziehungen. Manchmal wird jemand innerhalb der Familie ausgeschlossen: Das Kind etwa, das nicht wissen soll, dass es durch künstliche Befruchtung entstanden oder von einer Leihmutter ausgetragen worden ist. Familiengeheimnisse verhindern ein aufrichtiges Miteinander. Sie engen ein. Die Sorge, sich zu verplappern, lauert überall. Geheimnisträger stehen unter Strom, weil sie sich und andere kontrollieren: Worüber darf gesprochen, welche Themen müssen auf jeden Fall vermieden werden? Das ist anstrengend.
Trotzdem: Kann es nicht manchmal gut sein, Schweigen zu bewahren? Doch - dann, wenn es niemanden etwas angeht, was Menschen offen miteinander zu bearbeiten suchen: eine Aids-Erkrankung etwa. Dann, wenn das Schweigen dazu dient, allen ein Leben zu garantieren, das unbelastet ist von gehässigen Kommentaren und bohrenden Nachfragen. Es gibt keinen Zwang, sich vor anderen zu entblößen. Ein Familiengeheimnis kann auch dazu dienen, den richtigen Zeitpunkt für die Enthüllung abzuwarten - etwa dem Sohn oder der Tochter in angemessenem Alter über die Adoption zu erzählen.
Trotzdem kann es manchmal gut sein, Schweigen zu bewahren
Schwierig wird es, wenn Eltern ihre Kinder vor Belastung schützen möchten oder Kinder ihre Eltern schonen. Der Preis für vermeintliche Fürsorge und Respekt ist hoch. Denn zerstörerisch sind die Geheimnisse dort, wo sie Kleinen oder Großen das vorenthalten, was sie unbedingt angeht: ihre Herkunft, eigene schwere Krankheit und drohender Tod nächster Verwandter, unbearbeitete Schuld. Wer nicht erfährt, was ihn angeht, fantasiert sich aus vielen kleinen Hinweisen eine Geschichte zusammen, die meist viel ärger ist als die Wahrheit - oder wird irgendwann von Dritten "aufgeklärt" und dadurch zutiefst beschämt.
Bevor sich Lasten ansammeln, die von Generation zu Generation weitergegeben werden und möglicherweise zu Wiederholungen oder zu Krankheiten führen, ist es besser, über Familiengeheimnisse zu reden. Und zwar zuerst allein mit dem Menschen, den es betrifft. Niemals vor Publikum! Wer das Geheimnis offenlegt, muss es aushalten und auffangen können, dass der andere verstummt, herzzerreißend weint oder in Rage gerät. Es braucht Zeit, um die verborgenen Seiten der eigenen Familie anzunehmen und in die eigene Lebensgeschichte einzubauen. Manchmal bedarf es therapeutischer und seelsorglicher Hilfe, um wieder zu bejahen, dass man genau so, wie man ist, tatsächlich Gottes geliebter Sohn oder seine wunderbare Tochter ist.