Und dann?
20.10.2010

"Wachen Sie bitte auf. Sie müssen den Zug verlassen. Er endet hier. Die Strecke vor uns ist gesperrt." Ich war eingeschlafen in der S-Bahn von Köln nach Neuss und wurde nun von einem Mitreisenden geweckt. Wenige Stunden zuvor war ich noch beim Abschlussgottesdienst des 31. Deutschen Evangelischen Kirchentages in Köln gewesen, hatte mit Zigtausenden einen bewegenden Gottesdienst gefeiert, gesungen, gebetet und mal mit mehr, mal mit weniger Zustimmung der Predigt und den Abschlussworten gelauscht. Erlebnisreiche, lange Tage lagen hinter mir. Und ich war richtig müde.

"Unfall mit Personenschaden"

Gemeinsam mit vielen Menschen hatte ich ein großartiges Glaubensfest gefeiert. Nun stand ich auf dem Bahnhof von Dormagen. Noch etwas benommen hörte ich die Lautsprecherdurchsage. Die Strecke zwischen Dormagen und Neuss sei gesperrt aufgrund eines "Unfalls mit Personenschaden". Schienenersatzverkehr wird angekündigt. Doch mich drängt es jetzt nach Hause und ich setze mich ­ politisch völlig unkorrekt ­ in ein Taxi. Ich kann nun nicht mehr einschlafen, habe aber auch keine Lust, mit dem kommunikationsfreudigen Taxifahrer zu reden. Die Worte "Unfall mit Personenschaden" gehen mir nicht aus dem Sinn, verdrängen jedenfalls in diesem Moment die Erinnerungen an die vielen schönen Erlebnisse der letzten Tage.

Was mag es gewesen sein? Ein Selbstmord? Ein Unfall? Ein Unfall mit Verletzten oder Toten? Verzweifelte Menschen, die sich vor einen Zug werfen. Verzweifelte Menschen, die nun um ein schwer verletztes Unfallopfer bangen. Auch zu Hause, während ich meiner Frau und den Kindern etwas vom Kirchentag ­ und der abrupten Unterbrechung der Rückreise ­ erzähle, lassen mich diese Gedanken nicht los.

Wie bringen wietwas von der Freude in den Alltag?

Nach jedem Kirchentag seit 1981 ­und nach manchem Katholikentag ­hat mich diese Frage beschäftigt: Wie bringen wir Kirchentagsbesucher etwas von der Freude des gemeinsam Erlebten in den Alltag? Nicht nur in den Alltag unserer Kirchengemeinden. Nein, auch in meinen ganz persönlichen Alltag. Die jähe Unterbrechung der Heimfahrt verstärkt diese Zäsur, macht sie schwer erträglich.

Wie bereichernd war es in Köln, über Fragen des Glaubens, über Hoffnungen, auch über Zweifel mit vielen ähnlich gesinnten Menschen zu sprechen. Warum gelingt mir das im Alltag viel zu selten? "Kräftig, lebendig und schärfer" sei das Wort Gottes als jedes zweischneidige Schwert (Hebräerbrief, 4. Kapitel), haben wir auf dem Kirchentag oft gehört oder mit den Wise Guys gesungen. Doch wie können wir mehr von dieser Lebendigkeit und Kraft, wo nötig auch Schärfe im eigenen Alltag erleben? So erleben, dass auch andere neugierig auf diese Lebendigkeit und Kraft werden. Dass die in Köln erlebte Begeisterung auch die erreicht, die verzweifelt sind, die um einen Menschen bangen, die eine Toten beweinen, die selbst Schluss machen wollen. Ja, gerade auch diese.

Die Begeisterung in Köln war keine fromme Weltflucht. Kirchentage wecken Aufmerksamkeit für Gott ­ und machen aufmerksamer für die Menschen in Not. Alle zwei Jahre aufzutanken bei einem Kirchentag, das reicht mir nicht. Zwischendrin geben mir sonntägliche Gemeindegottesdienste Kraft, auch wenn sie nicht eine solche "Großtankstelle" sind wie der Abschlussgottesdienst eines Kirchentages. Auch aus engen Freundschaften zu anderen Christen gewinne ich Kraft. Gebe Gott, dass dies erkennbar ist ­ gerade für jene Menschen, die uns brauchen.

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