Fulbert Steffensky, Theologe am Vierwaldstättersee in Luzern fotografiert.Sophie Stieger
20.10.2010
5. Sonntag nach Trinitatis
Geh aus deinem Land, aus deiner Verwandtschaft, aus dem Haus deines Vaters in das Land, das ich dich sehen lassen werde!
1. Mose 12,1

Dies war einer der Lieblingstexte meiner Jugend. Ich habe alle Bibeltexte geliebt, die den Abschied, die Trennung, die Unterbrechung des Gewöhnlichen nahelegten. Die mir befahlen: Lass die Toten ihre Toten begraben! Schau nicht zurück, wenn du die Hand an den Pflug gelegt hast! Ich habe den Schweizer Einsiedler Nikolaus von Flüe bewundert, der Frau und Kinder verließ, um als Einsiedler in einer Schlucht zu leben. Ich konnte ihn umso leichter lieben, als ich damals weder Frau noch Kinder hatte.

Als ich diese Stelle aus dem 1. Buch Mose jetzt wieder las, war ich eher verärgert. Welche Gewalt liegt in diesen Texten, die dem Menschen den Bruch mit den eigenen Herkünften befehlen; mit Vater und Mutter; mit dem eigenen mühsam aufgebauten Lebenshaus; mit den natürlichen Bindungen von Verwandtschaft und Freundschaft und mit dem Land, das man gewonnen hat! Es gibt eine Radikalität in den Religionen, die schon viele Opfer gekostet hat. Und dem, der seine Toten unbegraben lässt, misstraue ich aus ganzem Herzen. Es wird erzählt: Abraham war 75, als ihn dieser Gottesbefehl traf. Er, der alte Mann, der eher ans Sterben als an Aufbrüche dachte, sollte auf eine ungreifbare Segensverheißung hin alle Greifbarkeiten aufgeben? Ich, der ich 74 bin, hätte wohl vorgezogen, in Ur in der chaldäischen Heimat zu bleiben und die alten Heimatlieder zu singen. Wer will es mir verdenken!

Ich lese den Text noch einmal und unterstelle ihm, dass er ein Freiheitstext ist. Man hat es gemütlicher ohne diese Auswanderungsappelle. Die Vaterhäuser stehen schon da, und man muss nur noch darin wohnen; das eigene Land kennt man und man weiß, was man an der Verwandtschaft hat (gelegentlich nur zu gut!). Dies soll man aufgeben zugunsten eines Zukunftslandes, das noch keiner gesehen hat? Aber die Vaterhäuser und Vaterländer und Familien bergen ja nicht nur, sie können auch die Gräber des Geistes sein. Die gebauten Welten, in die wir hineingeboren und hineinverstrickt sind, haben manchmal nicht mehr Wärme als der Mief von Gefängnissen. Die Schönheit, das Recht und der Wille Gottes sind oft in ihnen gefangen. Darum gibt es im Judentum und im Christentum so oft die unruhige Verlockung zum Auszug, zum Abbruch oder gar zur Ruinierung der Herkömmlichkeiten. Jede Zeit hoher religiöser Intensität ist eine Zeit des Abbruchs und der Brüche. Es sind immer Abraham-und-Sara-Zeiten; so die Zeit der Propheten, die Zeit Jesu, die Zeiten der großen Reformationen. Der Glaube macht uns zu vaterlandslosen Gesellen in den eigenen Ländern, Häusern und Kirchen. Religionen sind oft geblendet von der Idee der Kontinuität und sie suchen ihr Heil im Status quo und in der Wiederholung. Sie vergessen die andere Schönheit, die Gott uns zumutet: Zieh aus, suche mehr, als du hast! Befreie den Willen Gottes aus dem Schutt der Herkömmlichkeiten! Denke nicht, dass du ihn kennst und erfüllst, indem du den Willen deiner Väter und Mütter erfüllst. Wer nur denkt, tut und liebt, was seine Väter und Mütter gedacht und geliebt haben, der lebt nicht im Geist seiner Väter und Mütter. Er mag in ihrem Buchstaben leben, aber nicht in ihrem Geist.

Nein, wir wollen die Toten nicht ihre Toten begraben lassen. Wir leben von den Schätzen unserer Väter und Mütter, aber nur dann, wenn wir weiterdichten an ihren Liedern und Geschichten des Glaubens. Der Geist braucht Übersetzung, keine Repetition.