Fulbert Steffensky, Theologe am Vierwaldstättersee in Luzern fotografiert.Sophie Stieger
20.10.2010
Erntedanktag
Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen, und der HERR wird dir antworten.
Jesaja 58,7-9

Von meiner frühen Kindheit an musste ich Ziegen hüten. Noch heute entzückt mich der silberne Klang eines meckernden Zickleins. Wenn abends die Tiere vollgefressen waren, war es nicht leicht, sie wieder in den Stall zu bringen. Da gab es zwei Methoden. Einmal konnte man das Tier an der Kette zerren und notfalls von hinten voranschieben: "Los, geh doch!" Ich nenne das die "nur" moralische Methode. Eine lästige Arbeit und von bescheidenem Erfolg gekrönt. Es gab aber noch eine zweite Methode, die mit Verlockung arbeitete: Man hielt dem Tier ein Stück Runkelrübe vor die Nase, und es folgte willig und lüstern in den Stall, wo es seine Rübe bekam.

Die Nutzanwendung: Kein äußerer oder innerer Druck kann moralisches Verhalten gebären und auf Dauer halten. Natürlich wird meine Ziege aus Taktik folgen, wenn ich mächtig an der Kette ziehe. Sie weicht der Gewalt, aber sie ist nicht überzeugt. Die Moral leuchtet nicht in sich selber ein. Sie kann nicht mit Argumenten allein hergestellt werden, obwohl Argumente sie stützen können. Moral folgt der Lust, der Schönheit, dem Lebensreichtum, eben: der Runkelrübe. Das Evangelium als Runkelrübe! Jede Ethik muss zeigen, dass keiner bei ihren Vorschlägen verliert und dass sie dem Lebensreichtum aller dient. Jeder Appell muss zugleich ein Versprechen sein. Ein Satz von Hélder Câmara: "Lehre mich, ein Nein zu sagen, das nach Ja schmeckt!" Auch der kritischste prophetische Einspruch muss noch Lebensschönheit offenbaren; muss die Täter erkennen lassen, dass dieser Einspruch Verlockung zu mehr Leben ist, natürlich für die Opfer, aber auch für die Täter. Dieses hat der Verfasser des Jesaja-Textes verstanden. Er treibt nicht in die Moral, er verlockt, er spricht reines Evangelium.

Drei Versprechen macht der Prophet denen, die sich ihrem eigenen Fleisch und Blut nicht entziehen.

Das erste: Du bist wichtig! Man braucht dich, Mensch. Denn deine Hände sollen Fesseln lösen und Brot brechen. Du bist keine Null, denn du wärmst mit Gott das Leben. Es ist nicht unerheblich, ob du da bist oder nicht; ob du mütterlich mit dem Leben umgehst oder ob du es als zynischer Zuschauer verkommen lässt. Nichts mit protestantischem Nichtigkeitsbewusstsein, sondern Stolz: Deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen!

Das zweite: Du wirst gehört werden! "Dann wirst du rufen, und der Herr wird dir antworten." Der Grund der Welt wird als Sprache und Gehör erfahren, und unsere Schreie und Gebete fallen nicht in echolose Abgründe. Das Leben hat Sinn und ist hell, hell wie die Röte des Morgens.

Und das dritte Versprechen Jesajas: Du wirst einen Namen haben! Du wirst genannt werden: "Der die Risse vermauert und die Wege ausbessert, dass man darin wohnen kann." (Jesaja 58, 12) Du bleibst nicht ungerufen und namenlos. Du wirst wissen, wer du bist, und wissen, was du sollst. Du wirst ein Gesicht haben und kenntlich sein. Das ist nicht der selbst gemachte Name, wie ihn die Leute beim Turmbau zu Babel erzwingen wollten. Es ist nicht der Name, der durch Macht und Gewalt erobert wird und in dem die Menschen sich an nichts anderes erinnern als an sich selbst. Es ist der Name der Liebe, die sich nicht selber benennt.

Gewiss ist es nötig, dass die Katholiken radikaler lernen müssen, was Glaube und Gnade bedeuten. Aber ebenso nötig ist es, dass die Protestanten ihre routinierte Verachtung des Werks aufgeben, denn Gott liebt die Hände der Menschen.