Johanna HabererPrivat
20.10.2010
Trinitatis - Tag der heiligen Dreifaltigkeit
Jesus sprach zu Nikodemus: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus sprach zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er auch wiederum in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? (...) Jesus antwortete: (...) Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch, und was vom Geist geboren wird, das ist Geist.
Johannes 3,3.6

Wenn ein neugeborener Mensch zum ersten Mal die Augen öffnet, dann steht die Welt auf dem Kopf. Es dauert ein paar Tage, bis sich die Wahrnehmung ordnet, bis sich die Dinge umkehren und vom Kopf auf die Füße kommen. Langsam, langsam dreht sich bei einem Säugling die Welt vom Kopf auf die Füße und das neue Menschlein sieht die Welt, wie die anderen Menschen sie auch sehen. Der erste Blick in die Augen der Mutter, ins Gesicht des Vaters: Das neue Menschlein ist im Wortsinne ver-rückt.

Über solch eine Geburt, bei der plötzlich ein Mensch die Augen öffnet und die Welt neu sieht, spricht Jesus mit einem Mann, der ihn im Schatten der Dunkelheit aufgesucht hat. Nikodemus heißt der Mann und ich stelle mir vor, dass er schon ein paar Jahre auf dem Buckel hat. Er hat es zu Ansehen und Weisheit gebracht in der Welt, in der er lebt. Die Menschen achten ihn und sie hören auf ihn. Nikodemus ist mit sich im Reinen. Sein Weltbild ist geschlossen. Seine Positionen stehen fest. Eines Tages begegnet ihm Jesus, und je länger Nikodemus ihm zuhört, je genauer er Jesus beobachtet, desto mehr beschleicht ihn das Gefühl: Das ist etwas umstürzend Neues, da schwingt ein neuer Ton. Nikodemus spürt, dass Jesus aus einer Perspektive spricht, die ihm fremd ist. Jesus gebraucht zwar die gleichen Worte wie andere, aber der Horizont, der entsteht, und der Blickwinkel, den er eröffnet, weisen in eine neue Welt. Was das für eine Welt ist, darüber will Nikodemus mehr wissen.

Ist es möglich, die alte Welt noch einmal ganz neu zu sehen? Ist es möglich, dass ein Mensch, der sich eingerichtet hat in seinem Leben und der überzeugt ist, dass er die Dinge richtig sieht, dass ein solcher Mensch sein Weltbild noch einmal neu entwirft ­ ganz von vorne? Ja, sagt Jesus. Der Geist Gottes kann jeden Menschen zu jeder Zeit zu einem Neugeborenen machen. Der Geist Gottes kann einem Menschen die Augen neu öffnen, so dass er Gott und sein Reich in dieser Welt erkennen kann. Der sieht dann wie ein Säugling eine verrückte Welt. Der sieht dann mit den Augen Gottes: die Würde des Gedemütigten. Die Grazie des Alters. Die Schönheit des Entstellten. Die Macht des Opfers. Den Frieden mitten im Krieg. Die Stille im Lärm. Den Jubel im Elend.

Die Welt wird mit diesem neuen Blick im wahrsten Sinn des Wortes Neuland. Manche Menschen machen diese Erfahrung, dass sie ihre alte Welt von heute auf morgen neu anschauen oder anschauen müssen. Die Liebe macht das manchmal mit uns oder auch extreme Situationen des Leidens. Oder einfach eine überraschende Begegnung.

Freilich, die gewohnte Perspektive zu verändern ist hart. Man muss sich vom Gewohnten verabschieden, man düpiert Menschen, die glaubten, einen zu kennen. Man geht neue Wege und entdeckt, dass man vieles auf dieser Welt ganz unterschiedlich anschauen kann. Nicht immer mag da der Geist Gottes im Spiel sein. Aber oft. Neugeboren werden, das kann jeder Mensch, jetzt und immer wieder ­ auch wenn er schon alt ist.

Dem alten Nikodemus ist eine solche Neugeburt widerfahren wie vielen anderen, denen Jesus begegnete. Sie standen auf und folgten ihm und ließen ihr altes Leben. Denn: Wer einmal die Augen aufgemacht hat und die Welt mit Gottes neuem Blick betrachtet, der will nicht mehr zurück.