Dankbarkeit
Meine Eierbäuerin
Sie hatte nicht viel, sie brauchte nicht viel – und war doch sehr dankbar. Da fühlt sich Seelsorger Markus Fellinger an den guten Samariter erinnert
...mitten aus dieser hochbetagten Gesichtslandschaft schauten zwei Augen heraus in hellem Blau..."
AHAOK
Aktualisiert am 29.08.2024
3Min

Ich liebe es, Gesichter anzuschauen, sie auf mich wirken zu lassen, vor allem die Augen, aber auch die Nasen und die Münder, Haut und Ohren, Haare, wenn vorhanden – einfach alles. So ein Gesicht ist immer ein Gesamtkunstwerk. Schönheitsideale verlieren jegliche Geltung, sobald ich jemanden wirklich betrachte. Natürlich wirken die Gesichter ganz unterschiedlich auf mich, anziehend oder eher irritierend, aber ich möchte jedem Aussehen seine je eigene Schönheit zusprechen.

Privat

Markus Fellinger

Markus Fellinger ist Pfarrer und Gefängnis­seelsorger in Niederösterreich. In seinem Buch "­Hilfreich helfen" macht er sich ­Gedanken über ­soziales Engagement (Tyrolia Verlag, 18 Euro).

Ein Gesicht, das sich mir stark eingeprägt hat und das eine ganz besondere Schönheit gewonnen hat, ist jenes meiner Eierbäuerin, die ich über viele Jahre hinweg ­immer wieder besuchte, um ihr ein paar Eier abzukaufen. Es war übersät mit zigtausend Falten. Und mitten aus dieser hochbetagten Gesichtslandschaft schauten zwei Augen heraus in hellem Blau und ein Blick, der in seiner Tiefe einfach wohltat. Da war nichts von Bitterkeit zu spüren. Auch wenn in einem gewissen Schatten um die Augen etwas von Trauer zu erahnen war, überwogen doch ein ganz ­eigener Witz und: eine große Zufriedenheit.

Ich ging immer gern zu meiner Eierbäuerin und täuschte meist vor, Eier zu brauchen. Es ging mir aber vielmehr um sie. Und sie freute sich. Sie lebte allein, nachdem ihr Mann, ein dem Most zugeneigter Holzhacker, schon lange verstorben war. Sie vermisste ihn nicht. Nie hatte sie ein leichtes Leben. In einem abgeschiedenen Winkel des österreichischen Mühlviertels, nahe der tschechischen Grenze auf hartem Granitboden ist sie aufgewachsen. Sie hatte immer noch weniger als die meisten anderen dort, die auch schon ärmlich lebten. Jetzt bewohnte sie ihr Häuschen mit ihren Hühnern und einer Katze, machte Holz, um einzuheizen, und pflegte ihren Garten, bis dann – fast 90-jährig – auch das gar nicht mehr ging.

Und wenn ich sie fragte, wie sie zurechtkäme, lachte sie und sagte: "Man muss zufrieden sein." Das war keine Floskel. Diese Antwort stimmte ganz und gar mit ihrem Gesicht überein, mit allem, was sie ausstrahlte. Sie konnte schon auch sagen, wenn sie etwas bedrückte oder wenn sie an der Einsamkeit litt. Aber der Grundton einer tiefen Dankbarkeit trug alle Dissonanzen der Lebensmelodie.

Sie hatte einen Sohn. Der ist ein erfolgreicher Unter­nehmer und führt ein nobles Hotel. Jeden Montag kam er zu seiner Mutter. Sie bereitete ihm in ihren alten Töpfen ­eine einfache Mahlzeit. Nach dem Essen legte er sich auf die Ofenbank und schlief. Dann fuhr er zurück in die andere Welt, die der "Schönen und Reichen". Und seine ­Mutter blieb in ihrem bescheidenen Umfeld. Sie strebte nicht nach Besserem, Bequemerem oder Modernem.

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Die Eierbäuerin war nicht besonders fromm. Aber sie liebte es, mit mir übers Leben zu reden. Und dass ich ein evangelischer Pfarrer bin im katholischen Mühlviertel, das gefiel ihr. Sie dachte ganz eigenständig, ohne Schulbildung in einer besonderen Weisheit. Sie wünschte sich, dass ich sie einmal beerdige. Es wurde der erste ökumenische Gottesdienst in der Kirche des stockkonservativen Dorfs – mit Eucharistiefeier und meiner Predigt über den Samariter, der umkehrte, um zu danken (Lk 17, 11‒19).

Denn die Botschaft, die meine Eierbäuerin weitergab durch Wort und Ausstrahlung, war: Dankbarkeit. Da war nichts an Moral oder sonst ein versteckter Imperativ. Ihre innere Ruhe hatte etwas Ansteckendes. Auch ich fuhr ­anders nach Hause. Ich spürte eine Dankbarkeit und Zufriedenheit, die ich vorher so nicht hatte. Immer ­wieder zog es mich zu ihr hin, und dann kehrte ich ­wieder um zu einer tieferen Dankbarkeit.

Und wenn diese mir im Alltagsgewühl mit seinen kleinlichen Ärgernissen abhanden­kommt, hole ich mir innerlich das Bild der Eierbäuerin mit ihren unzähligen Lebensfalten hervor. Vielleicht wächst auch mein Gesicht in die Falten des Lebens, aus denen – zwischen Lachfalten hindurch – meine ­Augen verschmitzt schauen, anschauen und mit Dankbarkeit ­anstecken.

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Meine Eierbäuerin.
Ein zu Herzen gehendes "Das Wort".
Viel Empathie und Zugewandheit, die mich sehr berührt haben.
Dazu musste ich mal etwas sagen.
Danke.
Frauke Simoleit
Flensburg