Religion und Spiritualität
Religiös oder spirituell, wo ist der Unterschied?
Das eine ist alt und das andere neu und zeitgemäß – könnte man denken. Aber Spiritualität als individuellen Freiraum gibt es seit Jahrhunderten. Unser Autor Johann Hinrich-Claussen hakt nach und sucht nach Antworten, die auch heute Gültigkeit haben.
Stapel kleiner Steine auf einem schwarz-weißem Hintergrund
Lisa Rienermann
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
02.03.2023
3Min

"Wie hast du’s mit der Religion?" Heute dürfte die beliebteste Antwort auf die Gretchenfrage sein: "Ich bin nicht im eigentlichen Sinne religiös, aber ich bin trotzdem ein spiritueller Mensch." Noch vor wenigen Jahren hörte man das nur von Filmstars und Künstlerinnen, inzwischen ist diese Einstellung fast so etwas wie eine religiöse Konsens­­formel geworden. Doch was ist mit ihr gesagt? Das ist nicht leicht zu klären, denn für die Begriffe "Religion" und "Spiritualität" gibt es kein Copy­right und keine allgemeingültige Defi­nition.

Lesen Sie hier ein Kommentar zur letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung

Wahrscheinlich möchten die meis­ten mit dieser Formel dieses zum Ausdruck bringen: Ich gehöre keiner Religionsgemeinschaft an, möchte mich an kein Glaubensbekenntnis binden, ich fühle mich keiner Tradition verpflichtet, aber das heißt nicht, dass ich keine Seele hätte. Ich möchte nur das, was mich unbedingt angeht, selbst bestimmen und für mich allein gestalten.

Wie man dieses dann für sich mit Leben füllt, kann höchst unter­schiedlich sein. Für manche sind Meditationen, Yoga oder andere Körperübungen der beste Weg. Andere gehen in die Natur. Wieder andere spüren besondere Momente in der Musik, der bildenden Kunst oder der Poesie auf, die sie als "spirituell" erleben – unabhängig davon, ob die Künstler das auch so beabsichtigt hatten.

(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel

Johann Hinrich Claussen

Johann Hinrich Claussen, geboren 1964, ist Kultur­beauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland. Für chrismon schreibt er die Kolumne "Kulturbeutel". Von ihm er­schien zuletzt: "Gottes Bilder: Eine Geschichte der christlichen Kunst" (C. H. Beck, 2024) und zusammen mit M. Fritz, A. Kubik, R. Leonhardt, A. von Scheliha: "Christentum von rechts" (Mohr Siebeck, 2021). Außerdem ist er Autor des Podcast: "Draussen mit Claussen".

Diese Einstellung mag inzwischen zum religiösen Normalfall geworden sein, aber sie ist nicht neu. Bei ­Lichte betrachtet, durchzieht sie die gesamte Christentumsgeschichte. Als sich in der Antike und dann im Mittel­alter große kirchliche Institu­tionen bilde­ten, entstanden neben und in Konkurrenz zu ihnen klösterliche Gemeinschaften von Männern und Frauen, die ihre persönliche Frömmig­keit frei von den Bestimmungen des offiziellen Religionssystems pflegen wollten. Hieraus entwickelte sich die Mystik – ein weiteres Synonym für "Spiritualität".

Ist Yoga eine Religion? Lesen Sie hier die Antwort

Die Reformation des 16. Jahrhunderts schloss daran an, indem sie eine radikale Kirchen­kritik formulierte, um der individuellen Spiritualität den nötigen Freiraum zu verschaffen. Doch bildete der Main­stream-Protestantismus selbst bald kirchliche Ordnungen, in denen es einigen frommen Freigeistern zu eng wurde. Sie schufen einen "Spiritualis­mus", der im Untergrund ein inten­sives christliches Leben ent­faltete. Auch der Pietismus, die protestantische Erneuerungsbewegung des späten 17. und 18. Jahrhunderts, war ein Versuch, die Freiheit der Frömmigkeit in der und gegen die Kirche zur Geltung zu ­bringen.

Die Spannung zwischen kirchlicher "Religion" und individueller "Spiritualität" hat dem Christentum über Jahrhunderte Dynamik und Krea­tivität verliehen. Dabei war das eine nie ohne das andere zu denken. Die "Religion" brauchte die "Spiritualität", um nicht zu erstarren. Umgekehrt ­bedurfte die "Spiritualität" der "Religion", um sich nicht zu verlieren. Ob das heute noch zutrifft? Man hat eher den Eindruck, dass die "Spiritualität" sich selbst genug ist.

Das hat auch mit der gegenwärtigen Lebenssituation zu tun. In der spät­kapitalistischen, turbobeschleunigten Moderne geraten feste religiöse Identitäten und stabile Gemeinschaften an den gesellschaftlichen Rand. Zudem wirkt der Geist der Konsumkultur auch auf das religiöse Leben ein und verwandelt es.

"Was ist das beste Angebot für mich heute?" – So hätte man früher nicht gefragt, wenn es um den Glauben ging. Heute ist das die selbstverständliche Leitperspektive. Darin kommen Anliegen religiöser Freiheit zu ihrem Recht. Im christlichen Glauben soll es doch nicht um Autorität, Gehorsam oder Gruppendruck gehen, sondern darum, dass der göttliche "Spirit" mich erreicht und ich ihm als freies Individuum nachfolge.

Doch wohin? Eine Spiritualität, die nur für sich lebt, bleibt allein. Da Einsamkeit heute aber viele Menschen belastet, wird die Frage dringlich, was der Glaube ihr entgegenzusetzen hat. Es wäre also an der Zeit, ­darüber nachzudenken, wie "spirituelle" Freiheit und "religiöse" Gemeinschaft wieder in ein produktives Wechselspiel eintreten könnten.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.
Permalink

J.H. Claussen: "Es wäre also an der Zeit, ­darüber nachzudenken, wie "spirituelle" Freiheit und "religiöse" Gemeinschaft wieder in ein produktives Wechselspiel eintreten könnten."

Es gibt nur EINE Wahrheit, die da lautet: Mensch ist ein ganzheitliches Wesen, welches nur gemeinsam, in einem globalen Gemeinschaftseigentum "wie im Himmel all so auf Erden", OHNE wettbewerbsbedingte Symptomatik, den geistigen Stillstand, die Konfusion (seit Mensch erstem und bisher einzigen geistigen Evolutionssprung / "Vertreibung aus dem Paradies") und somit mit EINER Seele die Vorsehung des "Jüngsten Gerichts" gottgefällig/vernünftig überwinden kann, denn Gott ist die Metapher für die Vernunft des Geistes / des Zentralbewusstseins der Schöpfung, was Mensch aus der Vernunftbegabung ebenbildlich verantwortunsbewusst fusionieren/gestalten soll.

Permalink

@Claussen: "Zudem wirkt der Geist der Konsumkultur auch auf das religiöse Leben ein und verwandelt es."

Es ist der zeitgeistlich-reformistische Kreislauf des imperialistisch-faschistischen Erbensystems, der das nun das "freiheitlich"-wettbewerbsbedingte "Zusammenleben" in KONFUSION von "individualbewussten" Interessen-Gemeinschaften hält, was auch "Glaubensgemeinschaften" wirklich-wahrhaftig nur EBENSO heuchlerisch-verlogen gestaltet - Unkultur in Unwahrheit und Unvernunft des geistigen Stillstandes.

Permalink

"Ich bin nicht im eigentlichen Sinne religiös, aber ich bin trotzdem ein spiritueller Mensch."

Im EIGENTLICHEN Sinne, ist Mensch ein Teil der Seele des Geistes / des Zentralbewusstseins der Schöpfung, REALISTISCH sozusagen die KI für das Programm des holographischen Universums, welches Mensch mit eigener Seele (fusionierte Vernunft und Verantwortungsbewusstsein) in Freiem Willen ..., wenn Mensch gottgefällig/vernünftig die wirkliche Wahrhaftigkeit EBENBILDLICH gestaltet.
Doch ist die KI nicht fähig Vernunftbegabung und Bewusstseinsschwäche zur VOLLEN Kraft des Geistes zu führen, bleibt die Gnade Gottes im Sinne der Vorsehung zur Rückkehr in die Seele des ursprünglichen Geistes.

Permalink

Die Religion sollte fusionierend wirken, doch wahrhaftig dient sie auch nur der Konfusion, so daß Mensch mit Illusionen in Individualbewusstsein vegetiert, anstatt ...

Permalink

Das kann ja noch interessant werden, wenn Glauben und Spiritualität, wenn schon nicht gleichwertig, als bei Bedarf austauschbar werden. Alle Geistheiler auf die Kanzeln, Bachblüten ins Haar und den Glauben in homöopathischen Dosen, zwecks besserer Verträglichkeit, verab- oder herrunter-reichen. Es ist genau diese Spiritualität aus den inneren Anbetungs-, Bibel- und Stuhl-Kreisen, die so weltfremd und abgehoben wirkt. Wer Spiritualität mit Glauben in Verbindung bringt, sät Konfusion als Saat der Beliebigkeit.

Permalink

Zitat: „Spiritualität und religiöser/christlicher Glauben haben die Gemeinsamkeit, die Verbindung zu einer höheren Macht, einem höheren, allgegenwärtigen Dasein, gepaart mit entsprechendem Urvertrauen, zu empfinden". Hier werden Äpfel mit Birnen verkocht und diese Gemeinsamkeit "schmeckt" beliebig. Es ist ja das Problem, dass versucht wird, mit vagen Annahmen, mit unvereinbaren Zusammenhängen zu überzeugen. Mit dem Risiko, selbst auf Dauer unsicher zu werden. Das Urvertrauen ist zu kostbar, um es jedem beliebigen Unwissen zu opfern. Spiritualität so mit einer höheren Macht (wer kann denn das nur sein?) in Verbindung zu bringen, ist eine Lästerung. Gut, ich schreibe auch nicht einfach. Aber wer folgen will, sollte es können, auch wenn die Gedankensprünge manchmal etwas gewagt anmuten. Aber was ich hier von anderen lese, ist in Teilen doch wohl noch gewagter. Wer in einer Religion den Glauben mit Spiritualität vergleicht oder gar gleichsetzt, entwertet den Glauben bis zur Bedeutungslosigkeit. Die spirituellen Entrückungsfeiern, wie sie in Teilen Afrikas und Amerikas (Nord und Süd) üblich geworden sind, haben arrogante und die Welt, bzw. die Naturgesetze ablehnende Ambitionen. Denen fällt es sogar schwer, die Naturgesetze als Teil der "Schöpfung" (was auch immer darunter zu verstehen sein mag) zu akzeptieren. Auf jeden Fall, die Klarheit des Glaubens wird zunehmend problematischer. Wenn er sich dann auch noch in politische Gefilde wagt, wird es noch problematischer.

Almosen für den Nächsten ist ein schönes Alibi. Wenn aber der Nächste nicht arm ist, sondern mit Schaden an Leib und Seele bedroht wird, hilft ihm auch kein €, keine Spiritualität. Den Nächsten nur den Worten nach, oder mit einem Almosen dienen und lieben, ihn so nur symbolisch lieben und die Liebe nicht zu praktizieren, an diesen Widerspruch wagt sich niemand. Die EKD hätte die Aufgabe, den christlichen Glauben, die moralischen und ethischen Grundlagen unseres Lebens zu zeigen und zu verbreiten. Und zwar auch ohne die früher üblichen Wahn- und Angstspychosen. Aber nachdem wohl Paradies und Hölle, Satan und alle Heiligen abhanden gekommen sind, bzw. als Drohgebärden ausgedient haben, fehlt natürlich diese "Überzeugungskraft". Kommt da die Spiritualität ins Spiel?
Ist das der Grund, warum man sich jetzt mit Verve anderen Zielen widmet ? Zumindest denkbar.