Die Rolle des Wortes
Wieso wird in der Kirche gepredigt?
Es ginge ja auch ohne – wie bei Hindus oder Buddhisten. Andererseits soll sich das "Wort" ­ausbreiten . . .
Megafon vor violettem Hintergrund. Aus dem Megafon kommt ein heller Lichtstrahl
In der Predigt geht es um mehr als bloße Bibelkunde
Lisa Rienermann
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
11.01.2023
3Min

Alle Jahre wieder . . . Auch an diesem Heiligabend haben ungezählte Menschen an einem alt­ehrwürdigen Ritual teilgenommen: Sie haben sich in ­ihrer Kirche eine Predigt angehört. Und am Altjahrsabend werden viele Bürgerinnen und Bürger am Fernseher die säkulare Variante erlebt haben: die Neujahrsansprache des ­Bundeskanzlers. So fest dies im Jahres­kalender verankert ist, bleibt es doch erklärungsbedürftig: Warum wird eigentlich gepredigt?

So selbstverständlich ist es gar nicht, dass in der Mitte eines Gottes­dienstes eine Person in einem Talar auf eine Kanzel steigt und vor der Gemeinde eine Rede hält. Andere Religionen wie Hinduismus und ­Buddhismus kommen ohne so etwas aus und stellen Ritus und ­Meditation in den Mittelpunkt. Auch bei den orthodoxen Kirchen des Ostens und Südostens geht es im Gottesdienst vor allem um die Liturgie.

Es ist eine Eigentümlichkeit vor allem der Kirchen, die aus den Reformationen des 16. Jahrhunderts hervorgegangen sind, dass sie die Predigt ins Zentrum rücken. Martin Luther hatte erklärt, dass der Glaube aus dem ­Hören komme. Damit ein Mensch zum christlichen Glauben findet, muss er die Botschaft der Bibel kennen­lernen. Man muss also die wichtigsten biblischen Texte lesen oder sich vorlesen lassen. Da sich ihr Sinn nicht automatisch erschließt, müssen sie ausgelegt werden. Dabei geht es um mehr als bloße Bibelkunde. Die Botschaft eines biblischen Textes soll die Hörenden hier und jetzt erreichen, ein Licht auf ihr persönliches Leben ­werfen. Das kann kein Unterricht, kein Buch leisten.

Dafür muss man einem anderen Menschen zuhören, der den Sinn eines biblischen Textes mit Blick auf das, was Menschen ­heute umtreibt, verständlich macht – und dies in einer ansprechenden Sprache, als Teil eines gottesdienstlichen Ganzen mit Musik, Gebet und Stille. Das ist die Aufgabe und die Chance einer Predigt, dass sie einem den Glauben so nahebringt, dass man ihn sich aneignen kann.

Doch ist es gar nicht einfach zu ­sagen, was eine gute Predigt ausmacht. Leichter ist es aufzuzählen, wie man es nicht machen sollte. Indem man zum Beispiel abstrakte theologische Lehren verbreitet oder ­moralisierende Leitartikel über die Weltpolitik vorliest.

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Früher traten Prediger mit der ­Autorität ihres Amtes sowie ihrer ­theologischen Bildung auf und forderten Gehorsam gegenüber dem Gotteswort. Heute wird erwartet, dass Predigerinnen und Prediger persönlicher über den Glauben sprechen und ihrer Gemeinde eine spirituelle Erfahrung eröffnen.

Viel hängt dabei von dem Charakter und der Lebensgeschichte derer ab, die auf der Kanzel stehen. Ein christlicher Prediger, fand der Aufklärungstheologe Johann ­Joachim Spalding Ende des 18. Jahrhunderts, solle weise, ehrlich, heiter und menschenfreundlich sein. Das führt zu den zwei Hauptanliegen der auf­geklärten Predigt: Lebensweisheit und Empfindsamkeit. Martin Luther King, der wohl wirkmächtigste Prediger des vergangenen Jahrhunderts, hätte sicherlich andere Adjektive genannt. Ihm ging es um Freiheit und Gerechtigkeit für die Diskriminierten und Armen. Vor allem war die Predigt für ihn ein lebendiges, dialogisches Geschehen. Seine berühmte "I have a dream"-Rede ist undenkbar ohne die Zwischenrufe der Gospelsängerin Mahalia Jackson: "Martin, erzähl uns deinen Traum!"

Was eine gute Predigt ist, hängt also wesentlich davon ab, was die Predigenden für das Dringlichste halten und was die Predigt­hörenden zu einer bestimmten Zeit vor allem brauchen: Trost oder Ermutigung oder Empörung oder heilsames Erschrecken.

Angesichts der unüberschaubaren Vielfalt religiösen Redens ist es besonders sinnvoll, sich an die Urszene des christlichen Predigens und Predigthörens zu erinnern. Als nämlich die Hirten die Botschaft der Engel gehört und das neugeborene Kind in der Krippe gesehen hatten, "breiteten sie das Wort aus". Und alle, die ihre ­Predigten hörten, wunderten sich.

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"Gottes" Wege sind NICHT unergründlich - Die Bibel, somit Moses und Jesus, "spricht" eindeutig: Vernunftbegabter Mensch bedeutet ALLE, für eine Gott/Vernunft EBENBILDLICHE Gemeinschaft in globalem Gemeinschaftseigentum OHNE wettbewerbsbedingte Symptomatik ("wie im Himmel all so auf Erden").
Eine "individualbewusste" Deutungshoheit von/in Gut und Böse (egal wieviel Uneigennützigkeit/Nächstenliebe der "einzelne" Mensch in die Konfusion einbringt) ist NICHT erfüllend/zielbringend (Jesaja 55, 8-11) - Die Fusion zu wirklich-wahrhaftigen Möglichkeiten in geistig-heilendem Selbst- und Massenbewusstsein, erfordert die Überwindung der Konfusion des geistigen Stillstandes seit Mensch erstem und bisher einzigen geistigen Evolutionssprung ("Vertreibung aus dem Paradies"), damit Mensch wie in Matthäus 21,18-22 den Freien Willen in gottgefälligem Verantwortungsbewusstsein ...

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Liebe Autor*innen,
zu dem Artikel: Wieso wird in der Kirche gepredigt?
Der Artikel berücksichtigt in keiner Weise, dass die Kirchen immer leeren werden. Wieso wohl? Weil die Predigten schlecht sind? Weil der Ritus nur noch wenige abholt, die in Erinnerungen schwelgen? Ich
vermute: weil Menschen nicht mehr in ihrem spirituellen Erleben abgeholt werden. Wo bietet der Gottesdienst Austausch, gemeinsame Suche nach einem Impuls. Gemeinschaft im Gottesdienst ist vielerorts eine Worthülse. Daran wird sich nichts ändern, solange die Predigt ein Akt von vorne, von dem Wissenden an die Unwissenden ist. Gottesdienst muss neu gedacht werden, in Form, Ritus und gemeinschaftlicher Stärkung des Glaubens. Wenn sich da nichts tut werden, so ist zu vermuten die Kirchen noch leerer.
Mit freundlichem Gruß
Hansjörg Mandler
Gladbeck

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Sehr geehrte Damen und Herren!
Zurecht schreibt J. H. Claussen in seinen Beitrag über den Nutzen der Predigt, dass „die Botschaft eines biblischen Textes (…) die Hörenden hier und jetzt“ erreichen soll. Dazu ist meines Erachtens aber stets eine gründliche und textnahe Exegese erforderlich. Viele Predigten lassen das heutzutage vermissen. Statt Gottes Wort werden von den Kanzeln oft ganz eigene bis eigenwillige Botschaften verkündet. Das irritiert. Auch deshalb leeren sich vielerorts die Kirchen. Was der Gottesdienstbesucher hören will, ist das ausgelegte und oft „anstößige“ Wort der Heiligen Schrift.
Dr. Ulrich Pohlmann, Berlin