Am Tag der Räumung: Klimaaktivisten auf einem Hausdach in Lützerath
Environmentalists sit on the roof of a house in the village of Luetzerath, western Germany, on January 11, 2023, during the evacuation of anti-coal activists staging an 'active defence' of the village, ahead of a planned demolition to expand a coal mine. - Police have secured approval from the state interior ministry to clear the village but activists have warned there will be "no limits" in its defence, giving rise to fears of violent confrontations. (Photo by INA FASSBENDER / AFP) (Photo by INA FASSBENDER/AFP via Getty Images)
Getty Images/Ina Fassbender
Rechtens - aber auch klug?
Lützerath wird geräumt, das Dorf in Nordrhein-Westfalen soll dem Tagebau weichen. Polizisten beenden den Protest der Klimaaktivisten. War ihr Einsatz sinnvoll? Ein Kommentar
Tim Wegner
11.01.2023

Sie hat begonnen, die Räumung des kleinen Ortes Lützerath am Rande des Tagebaus Garzweiler. Lützerath hat Symbolkraft erlangt. Wird die Braunkohle, die unter dem Gelände liegt, verfeuert, könne Deutschland seine Klimaschutzziele nicht mehr erreichen, sagen die Aktivisten, von denen viele seit Wochen und Monaten in Lützerath leben.

Befürworter des Kohleabbaus argumentieren: Das Gelände gehöre der RWE, der Konzern steige früher aus der Kohleenergie aus als geplant, nämlich 2030 und nicht erst 2038. Es sei rechtens, wenn der Ort nun geräumt werde, und der Staat müsse geltendes Recht durchsetzen. Und: Die Kohle unter Lützerath diene der Versorgungssicherheit mit Strom.

Wer hat in der Sache recht? Der Räumung ging ein Gutachterstreit voraus, eine Zahlenschlacht. Kernfrage: Wie viel Kohle braucht RWE noch? "Die Zeit" hat die Gutachten verglichen und kommt zu dem Ergebnis: "Auffällig ist jedoch, dass selbst die Analysen, auf deren Basis die Landesregierung (in Nordrhein-Westfalen; Anm. der chrismon-Redaktion) ihre Entscheidungen zum Abbaggern Lützeraths getroffen hat, in einigen Szenarien nur ein hauchdünnes Ergebnis, zuungunsten Lützeraths, liefern." Eine Gruppe von Forscherinnen und Forschern aus unterschiedlichen Universitäten und Instituten kommt in einer Kurzstudie zu dem Schluss: Selbst im Lichte der Gaskrise, die durch den russischen Angriff auf die Ukraine ausgelöst worden ist, braucht es die Kohle unter Lützerath nicht mehr.

Tim Wegner

Nils Husmann

Nils Husmann ist Redakteur und interessiert sich besonders für die Themen Umwelt, Klimakrise und Energiewende. Er studierte Politikwissenschaft und Journalistik an der Uni Leipzig und in Växjö, Schweden. Nach dem Volontariat 2003 bis 2005 bei der "Leipziger Volkszeitung" kam er zu chrismon.

Juristisch ist der Fall - Stand jetzt - klar. Der Staat darf den Ort räumen lassen. Oft hört man das Argument, dass der Staat nun auch geltendes Recht durchsetzen müsse, er mache sich sonst unglaubwürdig. Aber ist immer alles klug, was rechtens ist? Nein. Wenn Gutachten sich über den Energiebedarf aus Kohle derart widersprechen, wäre ein Verzicht die klügere Wahl. Oder wenigstens ein Moratorium, um Zeit zu gewinnen, noch mehr Wissen zu generieren. Für mich verliert der Staat damit nicht an Glaubwürdigkeit, im Gegenteil. Wer wollte nicht in einem Land leben, in dem Politik und Wirtschaft bereit sind, Irrtümer einzugestehen?

Wer juristisch gegen den Erhalt von Lützerath argumentiert, möge zudem die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Klimapolitik bedenken. Im Kern besagt sie: Deutschland hat rechtsverbindlich erklärt, die menschengemachte Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad zu begrenzen. Das ist kein Vorschlag, das ist geltendes Recht und geltende Rechtsprechung. Handelt die Bundesregierung nicht jetzt, bürdet sie jungen Menschen und künftigen Generationen so große Lasten auf, dass deren Freiheiten nicht gesichert sind. Das erklärt, warum ein paar alte Häuser, ein Dorf ohne Einwohner so eine Symbolkraft erlangen konnten.

Zumal: Geht es um neue Terminals für Flüssiggas, beweist die Bundesregierung einen ungeheuren Elan; binnen Monaten werden sie aus dem Boden gestampft. Wo ist dieser Ehrgeiz bei simpelsten Maßnahmen wie einem allgemeinen Tempolimit auf Autobahnen, das sich sofort umsetzen ließe und Energie und Klimagase einsparen könnte? Wo war der Elan, zügig einen Nachfolger des überraschend erfolgreichen 9-Euro-Tickets umzusetzen? Und wo war dieser Ehrgeiz in jenen Bundesländern, die mit bewusst groß gewählten Abstandsgeboten zwischen Windrädern und Wohnhäusern jeden Zubau an Windenergie verhindern wollten? Nordrhein-Westfalen, wo Lützerath liegt, gehörte dazu.

Ich kann die Verzweiflung der meist jungen Aktivistinnen und Aktivisten verstehen, weil ich sie auch fühle, wenn ich meine Kinder ansehe und mir der Bibelvers "Wenn dein Kind dich morgen fragt ..." in den Sinn kommt.

Zu spät. Die kommenden Tage werden uns Bilder von Menschen bringen, die im Polizeigriff schreien, während sie fortgetragen werden. Diese Bilder müssen wir nun aushalten - und hoffen, dass kein Mensch Schaden nimmt.

Auf keiner Seite.

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"...Menschen...,die im Polizeigriff schreien..."

Polizisten, denen - wie unlängst in Berlin - das Trommelfell von einem Böller zerrissen wurde, schreien auch....und werden auch hier schreien. Nur interessiert dies die meisten Medien nicht. Sollte dies an einer fehlenden Äquidistanz liegen ? Natürlich nur an einer unbewußten, gewissermaßen "klammheimlich" fehlenden .... Vom journalistischen Berufsethos mag man ja schon gar nicht mehr reden.

Und Präses Frauen Heinrich u. Kurschus haben Verständnis für Fr. Dietz, die ja Gewalt nicht ausgeschlossen hat. War H. Bedford-Strom auf der Synode der einzige Bedeutende, der diese Gefahr des feministischen und ideologischen Rigorismus erkannt hat? Für das Knalltrauma eines Polizisten wird das des eigenen Kindes als Schutzschild vor dem Bauch in Kauf genommen. H. Bedford-Strom übernehmen Sie.

"Polizisten ... werden auch hier schreien. Nur interessiert dies die meisten Medien nicht." Wie bitte? Das ist so ziemlich das Einzige, was die Medien interessiert. Welche Form nimmt die Auseinandersetzung an? Funktioniert die uneigennützige edelmütige Deeskalationsstrategie der machtvoll aus allen Bundesländern auffahrenden, perfekt ausgerüsteten und entschlossenen Staatsgewalt? Oder kriegen die "von weit her angereisten" gewaltbereiten Chaoten vielleicht für eine halbe Stunde irgendwo ein Bein auf den Boden?

Wenn klar wäre, dass die Protestierenden ihren Bürgerpflichten nachkommen und nach der ersten Aufforderung durch die Polizei das Gebiet der polizeilichen Spezialoperation sofort und reumütig verlassen, käme kein einziger Reporter. Würde ja auch keinen Fernsehzuschauer oder Leserkommentator interessieren.

Fritz Kurz

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Lüthzerat hat keinen Einfluss auf irgendwas. Wenn vor weit über 100 Jahren alle begonnen hätten, nur noch das zu konsumieren, was sie unbedingt brauchen, die Vermehrung angehalten worden wäre, dann gäbe es jetzt eine Verzögerung. Langfristig aber auch keine Verhinderung. Ohne anthropogenes Leben kein Einfluss. 50 % der Lebensmittel werden vernichtet oder verderben. Der Mehrbedarf an Strom ist auch auf die Gamer und Streamer zurückzuführen. Und auch dafür soll in Lüthzerat abgebaut werden, damit von Netflix nichts verloren geht. Wenn Demo, dann gegen diesen Selbstbetrug. Die Aktivisten sind blind. Von Eruptionen und Jahreszeiten abgesehen, ist die Natur nicht sprunghaft. Für Veränderungen braucht sie massive sehr lang anhaltende Beeinträchtigungen.

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Husmann: "... dass kein Mensch Schaden nimmt."

Der Schaden für Mensch ist immer und überall, solange Mensch im geistigen Stillstand seit Mensch erstem und bisher einzigen geistigen Evolutionssprung ("Vertreibung aus dem Paradies") seine instinktive Bewusstseinsschwäche mit Angst, Gewalt und egozentriertem "Individualbewusstsein" pflegt, mit Konfusion in wettbewerbsbedingter Symptomatik, wo Wahrheit und Freiheit nur stumpf-/blödsinniger wie heuchlerisch-verlogener Teil des gleichermaßen imperialistisch-faschistischen Erbensystems sind - Es herrscht geistiger Stillstand und Unvernunft in Überproduktion von Kommunikationsmüll.

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Jeder Vergleich ist unvollständig bis falsch. Je nach persönlicher oder subjektiv sachlicher Perspektive. Und da gibt es ja grosse religiöse und kulturelle Unterschiede. Die eigene Nase zeigt den Weg. Was ist mit Atheisten oder Andersgläubigen, die eine Kirche besetzen mit dem Argument, dass man sie nicht braucht (wie Strom)? Sie zu wenige Besucher hat oder sie zu viele Menschen mit zu hohem Verbrauch und Luxus zulässt. Denn das sind ja die Klima-Sünden.  Analog dann auch nur einen Glauben für Fahrradfahrer und die Exkommonikation für alle SUV-Besitzer. Selbstverständlich als Heilige alle Veganer und Liegeradfahrer. Unsinn? Zumindest kein grösserer als jetzt mit der Gewaltverherrlichung und der Demokratiefeindlichkeit in Lützerath. Ob Sylvester auf der Strasse oder über der Kohle auf dem Baum, nur ein Hitler würde alle Gewalt zu seiner Vernichtung heiligen. Schuldig ist nicht die Politik. Schuldig sind wir mit unserer Zahl, mit unserem idiotischen Konsum, mit unserer Vernichtung von Rohstoffen. Die Politik ist nur unser Ergebnis. Von den Kanzeln und von ROM kein ernsthaftes Wort zur Umerziehung der gesamten Welt, dennn ohne sie wäre alles nichts. Damit wäre dann immer noch nicht die Frage beantwortet, ob denn diese Ansprüche überhaupt machbar und auch nur teilweise erfolgversprechend sind. Auf jeden Fall erst mal richtig trommeln.

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Husmann: "Wenn Gutachten sich über den Energiebedarf aus Kohle derart widersprechen, wäre ein Verzicht die klügere Wahl."

Die "klügere Wahl" (also die wirklich-wahrhaftige Organisation eines UNKORRUMPIERBAREN Gemeinschaftseigentums) spielt, in der wettbewerbsbedingt-konfusen Symptomatik des nun "freiheitlichen" Wettbewerbs, nirgends eine Rolle, es geht in der maßgeblichen Mehrheit immer nur um bewusstseinsbetäubende Kompromissbereitschaft in Heuchelei und Verlogenheit.

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Gesetzt den Fall, es setzt sich die naheliegende und wissenschaftlich fundierte Erkenntnis durch, dass das Klima nur längerfristig gerettet werden kann, wenn in den nächsten 80 Jahren die Weltbevölkerung um mind. 90% reduziert wird und der Konsum ebenfalls erheblich verringert werden muss. Das jede Zahl ein Ergebnis hat? Es ist doch zweifelsfrei, dass sich die Menschheit selbst "auffrisst". Irgendwann sind doch alle Ressourcen weg!  Wenn dann Greta kommt und die Reduzierung mit einer Demo  und  Zerstörung in einer Kirche als Hort der zerstörerischen Werte fordert, sind Sie dann dafür, das Polizisten auch die Kirchen schützen? Mit anderen Worten: Was tun Sie, wenn die christlichen Werte zum Schutz des Lebens soviel Leben zulassen, dass das Leben das Überleben Aller unmöglich macht? Das Mäusehaus als Beispiel. Es gibt in der Natur (Feldmausplagen) einige  Evolutionen mit ähnlichen Abläufen. Was ist, wenn die Aktivisten sich gegen die Werte wenden, die neben den Wohlstandsfolgen der Zivilisation,  mit "Vermehret Euch" und "Verhütet nicht" für die Zahlen von jetzt 8 und bald 11 Milliarden und deren Folgen  verantwortlich sind? Dann sind  Menschenrechte und christliche Werte Ursache für ein "Self fullfilling  Suizid". > SFFS. An diesen Säulen rütteln, und die Sicherheit beginnt zu wanken