Herr Overath, sind Sie ein geduldiger Mensch?
Dieter Overath: Tendenziell eher ungeduldig.
Ist es dann nicht erstaunlich, dass Sie 30 Jahre lang einen Job gemacht haben, bei dem es eher in Trippelschritten vorangeht?
Trippelschritte? Das sagen Sie. Ich bin da ganz anderer Meinung. Wenn ich mir ansehe, mit was für einem Gegenwind wir einst gestartet sind und wer sich jetzt alles Fairtrade auf die Fahnen schreibt, dann sind wir in großen Schritten vorangekommen. Aber dem Vorurteil, dass Fairtrade-Produkte immer noch eine Nische sind, begegne ich leider häufig. Ich hole dann immer unsere Zahlen hervor, und die sprechen für sich: Allein beim Kakao haben wir in Deutschland einen Marktanteil von 16 Prozent, bei Bananen sind es 14 Prozent, bei Rosen gar 36 Prozent. Im letzten Jahr haben wir für 2,1 Milliarden Euro faire Produkte in Deutschland umgesetzt. Ein Rekord. Ich finde, darauf können wir stolz sein.
Sie wurden 1992 erster Geschäftsführer des neu gegründeten Vereins Fairtrade Deutschland. Wie war die Reaktion in der Konsumbranche?
Dieter Overath
1995 war der Kaffeepreis so niedrig wie nie zuvor. Wir wollten bei Tchibo in Hamburg handbeschriebene Postkarten von Bauern überreichen, zusammen mit ein paar Luftballons; eine völlig harmlose Aktion. Der Werkschutz ließ die Rollläden runter und rief die Polizei. Das zeigte die ganze Unbeholfenheit damals. Alle fremdelten mit unserem Ansatz, den privaten Konsum mit als Lösung zu sehen. Mittlerweile hat sich viel getan, Tchibo ist zum Beispiel ein großer Fairtrade-Lizenznehmer. Doch die Frage der Ungerechtigkeit im globalen Handel ist damit bei weitem nicht gelöst.
Sie haben immer dafür gekämpft, Fairtrade-Produkte auch in den großen Handelsketten zu platzieren. Verliert die Idee damit nicht ihre Seele?
Auch dieser Vorwurf begegnet mir oft, aber dann antworte ich: Der Kakaobäuerin in der Côte d'Ivoire ist es erst mal egal, wo ihr fair gehandelter Kakao vertrieben wird. Hauptsache, sie kann einen guten Teil der Ernte zu Fairtrade-Preisen absetzen. Und damit das so ist, müssen Sie Mengenrelevanz erzielen und keinen Schönheitspreis. Die Erzeugerinnen und Erzeuger fordern das im Übrigen von uns – und zwar zu Recht.
Fridays-for-Future-Aktivisten wünschen sich ganz grundsätzlich weniger Wachstum in der Konsumbranche. Was sagt Fairtrade dazu?
Wir hatten gerade unsere Jubiläumsfeier zum 30-jährigen Bestehen von Fairtrade und hatten dort auch eine Jugendkonferenz, die FairCon, bei der knapp 100 Jugendliche Ideen und Projekte für eine nachhaltigere Zukunft entwickelt haben. In der Jury saß auch die Berliner Sprecherin von Fridays for Future. Soziale Gerechtigkeit und Klimagerechtigkeit gehören zusammen. Wir alle wissen, dass die Klimakatastrophe in den Ländern des globalen Südens viel schlimmere Auswirkungen hat als bei uns. Und wir können mittlerweile durch Studien nachweisen, dass unsere Produzent*innen insgesamt widerstandsfähiger sind. "Dem Kaffee wird's zu warm" könnte auch ein Slogan unter Klimaaktivist*innen werden.
Ein Pfund fair gehandelter Kaffee gibt es bei Aldi oder Lidl für unter fünf Euro. Ist das wirklich ein fairer Preis?
Wir legen die Einkaufsbedingungen fest, und dafür stehen wir gerade. Ich erinnere mich noch an Zeiten, da mussten Sie endlos an Regalen mit Nestlé- und Krönung-Kaffee im Supermarkt vorbeilaufen und irgendwo dahinten stand verschämt der Fairtrade-Kaffee. Heute sind diese Produkte ein Markenzeichen, eben auch bei Discountern. Das Wichtigste ist ja: Es gibt 0,0 Prozent Rabatt. Ob Supermarkt oder Discounter, alle zahlen die gleichen Prämien, alle bekommen den Kaffee zu gleichen Konditionen. Den günstigen Preis erreichen die Discounter dann über die Masse. Lidl vertreibt unseren Kaffee mittlerweile in allen Auslandsfilialen.
In welcher Branche gibt es aus Ihrer Sicht den größten Nachholbedarf?
Ganz klar bei Textilien. Unser Kleidermarkt ist im Kern verrottet. Jedes Kaufhaus hängt sich ein "grünes" T-Shirt ins Schaufenster, doch tatsächlich liegt der Marktanteil fair gehandelter Kleidung bei unter einem Prozent. Hier wird Fast Fashion verkauft und unsere Altkleidermassen zerstören dann in Afrika den lokalen Kleidermarkt.
Textilsiegel wie etwa der auch von Ihnen mit unterstützte "Grüne Knopf" bringen nichts?
Die Siegel sind ein Anfang. Aber schauen Sie nach Pakistan oder Bangladesch. Auch Fabriken, die den "Grünen Knopf" nutzen, zahlen keine existenzsichernden Löhne. Wir sprachen ja vorhin über Wachstum. Ich würde nie sagen, kauft weniger Bananen, aber ich sage mittlerweile immer: Kauft weniger Klamotten, und wenn, dann fair produzierte.
Wir haben eine rasch steigende Inflation, rechnen Sie mit einem Absatzeinbruch?
Wir haben eine treue Kundschaft. Moderate Preissteigerungen macht sie mit. Doch natürlich gilt: Wenn insgesamt weniger Rosen verkauft werden, dann werden auch weniger Fairtrade-Rosen verkauft.
Erstaunt es Sie, dass gerade Rosen Ihr meist gehandeltes Fairtrade-Produkt in Deutschland sind?
Als wir 2005 damit anfingen, fair produzierte Rosen anzubieten, haben mir alle gesagt: Da kommst du nicht ran; das Zehnerbund Rosen für 1,99 bei Rewe ist nicht zu knacken. Doch wir haben es geknackt. Unsere Rosen kosten mehr und sind genau diesen Preis wert – und wir liegen bei den erwähnten 36 Prozent. Ich finde das toll.
Warum soll ich eigentlich Rosen aus Kenia kaufen? Rosen wachsen sehr gut auch in Deutschland.
Ich finde es unehrlich, wenn Produkte aus dem Ausland automatisch unter Klimaverdacht gestellt werden; in vielen Fällen haben diese Produkte eine bessere Klimabilanz als die heimische Konkurrenz. Und ja, die Rosen aus Kenia kommen mit dem Flieger. Aber wer fragt danach, was der Flieger auf dem Hinweg transportiert? Vielleicht Autoteile? Wir sind Exportweltmeister und wir müssen das Thema soziale Gerechtigkeit immer auch global sehen. Zudem lässt sich die Klimabilanz für Rosen aus Afrika durchaus sehen, weil sie dort keine aufgeheizten Gewächshäuser benötigen wie zum Beispiel in Holland.
Letztlich helfen Sie, die Schöpfung zu bewahren. Sind Sie noch Mitglied einer Kirche?
Ich bin in einem streng katholischen Wohnviertel in Köln aufgewachsen. Der heutige Kardinal Woelki saß mit mir in der gleichen Grundschulklasse. Meine Mutter starb, als ich sechs Jahre alt war. Mein Vater war Briefträger, seine Kollegen konnten das nicht mehr mit ansehen und verkuppelten ihn mit einer geschiedenen Frau mit Kind, die dann meine zweite Mutter wurde. Somit entstand die erste Patchworkfamilie im Viertel, nicht zum Wohlgefallen des dortigen Pfarrers. Dieses Verhalten empfand ich als "unchristlich" und war für mich ein Grund auszutreten.
Waren solche Erfahrungen der Beginn Ihrer Politisierung?
Sicher auch. Studieren war bei uns nicht vorgesehen. Ich bin dann nach der Volks- und Handelsschule zum Bund gegangen und war Zeitsoldat. In dieser Zeit besuchte ich Freunde in Barcelona, dort demonstrierten wir gegen Franco. Ich kam ins Gefängnis, doch als die Guardia civil meinen Wehrpass sah, haben sie mich sofort entlassen: ein deutscher Soldat im spanischen Knast, das war denen unheimlich. Später habe ich als Protest gegen den NATO-Doppelbeschluss diesen Wehrpass an den Kölner Dom genagelt und bekam ein Verfahren an den Hals wegen Zerstörung von Staatseigentum, nicht wegen der Domtür, sondern wegen des Wehrpasses. Über die spanische Sprache und Aufenthalte in Mittelamerika entstand ein jahrzehntelanges Engagement bei Amnesty International. Die Arbeit in Guatemala und die intensive Zeit als ehrenamtlicher Bundesvorstand haben mich geprägt.
Sie hören jetzt nach 30 Jahren auf – gehen Sie mit Wehmut?
Ich bin jetzt 67 Jahre alt und wir haben den Übergang hier drei Jahre lang sehr gut vorbereitet. Es gibt jetzt ein Vorstandsteam aus drei Köpfen und das ist zeitgemäß. Mir war es immer wichtig, dass Fairtrade im Vordergrund steht, nicht Dieter Overath. Natürlich habe ich schon ein paar Ideen im Kopf, was ich noch so alles anfangen könnte. Aber jetzt radeln meine Frau und ich erst mal durch die Lande und darauf freue ich mich.
Mit dem E-Bike?
Auf keinen Fall – je eher Sie aufs E-Bike umsteigen, umso früher kommt der Rollator …
Wahrheit
Der WETTBEWERBSBEDINGTE Handel dieser manipulativ-schwankenden Welt- und "Werteordnung" ist immer unfair, deshalb kann Fairtrade nur der kompromissbereite "Tropfen auf dem heißen Stein" sein - Kompromissbereitschaft zur SYMPTOMATIK von "Wer soll das bezahlen?" aber ist falsch, wo längst ein globales Gemeinschaftseigentum in zweifelsfreier Eindeutigkeit die wirkliche Wahrhaftigkeit "wie im Himmel all so auf Erden" gestalten sollte.
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"geknackt" - alternativ oder systemrational???
Wir "leben zusammen" in einer heuchlerisch-verlogenen Welt- und "Werteordnung" - Man kann da sagen/fordern: Fairtrade, aber bei genauer Betrachtung, steckt diesem eine "Fairness" inne die ebenso ..., oder hat irgendjemand gehört/gelesen/geglaubt, dass Fairtrade den Menschen wirklich-wahrhaftige fairness "wie im Himmel all so auf Erden" bringen will/kann!?
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