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Wo bleibt das Publikum?
Viele haben das unterschätzt: Nach dem Ende der Corona-Einschränkungen strömen die Menschen nicht zurück in Kulturveranstaltungen (wozu ich jetzt mal Gottesdienste zähle), im Gegenteil. Dafür gibt es viele Gründe, die man unbefangen und gemeinsam analysieren sollte. Hier eine lange, aber immer noch unvollständige Liste.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
08.07.2022

Seit einiger Zeit sammle ich, was mir kirchliche Kollegen und Gesprächspartner aus der Kultur über gut, schlecht oder mittelmäßig besuchte Veranstaltungen erzählen. Die Gründe dafür, dass viele Menschen nicht mehr kommen, sind vielfältig und widersprüchlich.

Nicht wenige sind immer noch ängstlich und möchten eine Ansteckung vermeiden.

Andere haben sich zu Hause eingerichtet. Ich nenne das „negative Gewöhnung“. Ein depressives Element steckt darin. Es würde eine übermäßige innere Anstrengung kosten, aus dem Haus zu gehen.

Manche habe es verlernt. Es ist wie beim Sport: Wenn man zwei Jahre Pause macht, ist man kein Sportler mehr. Ähnlich ist es beim Theater-, aber auch beim Gottesdienstbesuch. Letzterer ist auf seine Weise ja auch eine Kulturleistung, nämlich die Übung in einer anspruchsvollen geistigen Tätigkeit.

Wenn weniger gehen, haben weniger etwas zu erzählen, das andere dazu bewegt, es ihnen nachzutun.

Die Gemeinschaften und Gemeinden, die kulturelle Ereignisse tragen, haben sich aufgelöst oder sind sehr brüchig geworden.

Einige haben für sich entdeckt, dass sie Kultur eigentlich gar nicht brauchen, jedenfalls nicht in der hergebrachten Form.

Für viele Berufstätige hat sich der Alltag radikal verändert. Wer nicht mehr morgens in die Stadt zur Arbeit fährt, sondern im home-office bleibt, erspart sich abends den Weg zu einer Kulturveranstaltung.

Es ist nicht leicht zu beschreiben, wer eigentlich fernbleibt. Ins Kino scheinen vor allem die Älteren, also die Zielgruppe für anspruchsvolle Filme, nicht mehr zu gehen. Bei Lesungen und Debatten scheint es umgekehrt zu sein: Die Jüngeren sind fast gar nicht mehr zu erreichen.

Bald wird ein weiterer Faktor noch sehr viel wichtiger werden: zunehmende Armut oder zumindest Geldknappheit. Da werden viele als erstes an der Kultur sparen.

Was man dagegen tun kann? Da habe ich kein Rezept parat. Aber ich versuche es einfach, häufig und gern: Lesungen, Debatten, Gottesdienste. Zum Glück kann ich es mir leisten, nicht auf die Quote zu schauen. Ich lebe nicht vom Ticketverkauf. Da kann es mir erst einmal egal sein, wie voll der Saal ist, solange diejenigen, die kommen, nicht ein seltsames Gefühl beschleicht. Wenn also eine freundliche Atmosphäre da ist und eine interessierte Gruppe, bin ich zufrieden und freue mich, dass wir der negativen Gewöhnung etwas entgegensetzen. Oft mache ich dann sehr schöne Erfahrungen.

Zum Beispiel in der vergangenen Woche: Da habe ich in München-Grünwald in der sehr gastfreundlichen Thomas-Kirche mit dem Freundeskreis der Evangelischen Akademie Tutzing das Buch „Für sich sein. Ein Atlas der Einsamkeiten“ vorgestellt, das ich gemeinsam mit Ulrich Lilie geschrieben habe. Und es war wie stets: Das Buch löst anregende Reaktionen aus. Eine geht mir besonders nach. Eine Frau, die in den 1990ern aus Russland nach Deutschland gekommen war, erzählte: „Nie war ich so einsam wie damals in der Sowjetunion. Denn da mussten wir immer im Kollektiv leben. Nirgends ist man so einsam wie im Kollektiv.“ – Allein wegen dieser Äußerung hatte sich für uns das Kommen schon gelohnt.

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Auch wenn Claussen schreibt, dass seine Liste möglicher Gründe nicht vollständig ist, fällt mir doch auf, dass keiner davon mit den Kultureinrichrungen oder Kirchen selbst zu tun hat. Das ist eine eigenartig einseitige Sichtweise, der die Prämisse zugrundezuliegen scheint, dass vor Corona alles mehr oder minder in Ordnung war.

Mit Blick auf die Kirchen wird man das nicht behaupten können. Auch vor Corona litten sie unter einer deutlichen Relevanz- und Akzeptanzkrise. Und diese reicht womöglich tiefer in die Mitgliedschaft rein, als es vorher klar war.

Aus dem Relationship-Marketing kennt man den grundlegenden Zusammenhang, dass je länger eine Beziehung besteht und von beiden Seiten aktiv gestaltet wird, desto schwieriger wird es, diese Beziehung aufzugeben. Schließlich wurden in der Vergangenheit viel Zeit, Geld, Emotionen und Überzeugungen in diese Beziehung investiert. Und mit der Dauer der Beziehung steigen die Beziehungsabbruchskosten für Mitglieder oder Kunden, auch wenn sie vielleicht aktuell oder schon länger unzufrieden sind. Doch der Kontakt blieb bestehen und stellte weiterhin einen gewissen Wert da.

Und dann kam Corona und mancherorts brach der Kontakt zu den Kirchengemeinden ab, wurde das Gottesdienstleben unterbrochen, gab es lokal keine oder unzureichende Alternativen. Die Beziehung wurde gekappt oder auf Eis gelegt.

Die Mitglieder waren in der Lage, ihr Verhältnis zur Evangelischen Kirche und ihrer Gemeinde neu bewerten zu müssen. Corona nahm einigen von ihnen die Entscheidung ab, die sie aufgrund der gescheuten Beziehungsabbruchskosten vor sich hergeschoben haben. Sie brachen den Kontakt ab, auch wenn sie vielleicht nicht gleich ausgetreten sind. Die Bindekraft von gesellschaftlichen Konventionen ließ in dieser Ausnahmezeit nach.
Corona zwang die Mitglieder auch zur Neuorientierung und da bieten Social Media etc. offensichtlich attraktive Alternativen.

Auf der unabgeschlossenen Liste der Gründe für den niedrigen Besuch von Kulturveranstaltungen fehlt auf jeden Fall der eigene Anteil der Kirchen an der Lage. Und diese fehlende Selbstkritik ist ein wesentliches Teil des Problems.

Vielen Dank, lieber Sebastian Carp, für Ihren Diskussionsbeitrag! Da treffen Sie natürlich einen zentralen Punkt, der mehr als nur einen eigenen Blogbeitrag verdient hat. Mir ging es hier wirlich nur um eine erste Sichtung der Corona-Folgen für die Teilnahme an kulturellen und kirchlichen Veranstaltungen. Das sollte auch der solidarischen Entlastung dienen. Denn es ist nicht immer nur die eigene Schuld! Übrigens finde ich, dass wir in der Kirche deutlich offener, ehrlicher und selbstkritischer über dieses schambesetzte Thema sprechen als viele andere. Aber natürlich steckt hinter allen Fragen nach Attraktivität, Ausstrahlung, Quote etc. die Kernfrage: Was geschieht in einem Gottesdienst, was wird hier gesagt oder gesungen, was erlebt, das so bedeutsam ist, dass man es nicht verpassen sollte?

Zum Schluss: Meine Liste, warum so wenige kommen, hatte ich am vergangenen Freitagmorgen geschrieben. Abends hatte ich eine Lesung zu moderieren. Der Saal reichte kaum aus, wir müssten von überall her Stühle holen, es war eine helle Freude.

Was bleibt denn noch übrig, wenn sich der Glaube mit Social Media messen lassen wiil? Muß? Mit dem Zeitgeist mithalten zu wollen, ist ein Armutszeugnis. Die "Moden" als Vorbild für den Glauben? Der Zeitgeist hat seine eigenen Sprachen. Ein Segen mit HipHop?

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Sehr geehrter Herr Claussen!

Das Resümee ist bitter aber der BEDEUTUNGSVERLUST unübersehbar.
Corona ist und war nur der Turbo einer Entwicklung, die mit der Aufklärung begann, dann mit der Romantik und der esoterischen Sinnsuche verfestigt wurde, um dann vor 120-60 Jahren breiter wirksam zu werden. Erst unmerklich, dann immer rasanter. Die beiden Kriege haben zu Beginn der Eskalation die Saat "befeuert". Die Frage, warum Gott das Leid zugelassen hat, wurde unbeantwortet immer eindringlicher. Sie ist der pure beantwortungslose Zweifel. Eine Frage nach der Verantwortung für den Glauben ist zwar obszön, schwebt aber zwischen Angst und Hoffnung. Der Vergleich ist zwar unfair, aber die Formel 1 und andere derartige Events haben im übrigen Europa enormen Zulauf und die Gotteshäuser wurden leerer. Brutal: Die Vermittlung und Pflege von Glauben sind zu einem Marketing verkommen. Gottesdienste für Motorradfahrer, Tierfreunde, Spätaufsteher, Gebete und Gemeinschaft in Stuhlkreisen, gemeinsames Frühstück, esoterische Wahlverwandtschaften. Zwar hinkt der Vergleich gewaltig, aber gegen wen konkurriert denn ein religiöser Glaube, oder ist auch diese Frage eine Zumutung? Ja! Aber leider eine alltägliche Beobachtung. Gott hat und braucht keine Konkurrenz. Leider hat der Glaube ein obrigkeitliches Macht- und Angst-Motiv, das schreckt. Die Angst dominierte früher die Hoffnung, und die blieb ungewiss. Die Hölle wird nicht mehr erwähnt und das Paradies als mögliche Alternative ist ebenfalls vage. Auch die Sekten, Verschwörer und politischen Extremisten bedienen sie imaginären Emotionen, bis hin zu Privatglauben. Die Klimaangst ist real, nachvollziehbar und ein rein weltliches Motiv für die Zukunftsangst. Sich darüber freuen, dass die wenigen die noch kommen, glücklich sind, ist zu wenig. Der Bedarf an Glauben ist geschwunden. Die Materialisierung hat den Glauben erreicht. Alle Religionen sind davon mehr oder weniger aber immer stärker betroffen. Glauben mit Gewalt zu erzeugen oder zu festigen ist auf Dauer nicht möglich. Die nächsten Hungersnöte werden von keinem Glauben gesättigt. Zurück bleibt Ratlosigkeit

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur