Ja, es war ein Fehler von Olaf Scholz, den Eindruck zu erwecken, dass die Corona-Impfpflicht auf jeden Fall kommen werde - und dann auch noch möglichst bald. Das passt nicht zum Verfahren, für das sich Scholz schon entschieden hatte, als er noch gar nicht Bundeskanzler war: Die Abgeordneten des Bundestages sollen frei abstimmen und aus ihrer Mitte heraus Gesetzesentwürfe erarbeiten, über Fraktions- und Koalitionsgrenzen hinweg. Dieses Verfahren ist richtig, es bietet viele Chancen.
Nils Husmann
Die Bundespolitik in Berlin und die Medien, die über sie berichten, folgen aber leider oft einer ganz anderen Logik: Sie personifizieren das Gelingen und Scheitern von Politik. "Nun muss Scholz liefern!", ist ein typischer Satz, der nun dieser Tage zu lesen ist. Die Impfpflicht? Die ist in dieser Logik nun allein Sache des Kanzlers und der Bundesregierung. "Beim Thema Impfpflicht herrscht Uneinigkeit in der Regierung. Damit verschwendet sie wertvolle Zeit. Das ist Führungsversagen in einer der größten Krisen unserer Zeit", sagt etwa Thorsten Frei, Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion im Bundestag. Wer will es ihm verdenken, sucht die Union nach 16 Jahren an der Macht doch noch nach ihrer Rolle in der Opposition.
Aber sie setzt auf das falsche Thema. Die Impfpflicht geht alle an, auch CDU und CSU. "Selbstbestimmung über den eigenen Körper zu erlangen, gehört zu den zentralen Errungenschaften der Demokratie- und Freiheitsgeschichte", schrieben die Mitglieder des Deutschen Ethikrates kurz vor Weihnachten in einer lesenswerten Orientierung zur gesetzlichen Impfpflicht. Die Aufgabe, vor der der Bundestag steht, ist also alles andere als trivial und alltäglich.
Dabei machen es Zeit und Eile diesmal nicht kompliziert, sie sind bei Omikron kein Faktor: Eine Impfpflicht käme zu spät, um die Omikron-Wand zu zerbröseln, die sich in anderen Ländern aufgebaut hat und die nun auch in Deutschland Formen annimmt. Boostern ist erst mal wichtiger. Zeit und Genauigkeit können der Debatte nur nutzen und der Entscheidung Legitimität verleihen.
Es braucht eine Sternstunde des Parlaments
Wer die Impfpflicht der Fraktionsdisziplin unterwirft, wird der Sache nicht gerecht. Damit eine Impfpflicht vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand hat, muss am Ende ein sehr solides Gesetz dabei herumkommen, ein breiter, tragfähiger Kompromiss. "Sternstunden des Parlaments" gab es dann zu feiern, wenn ethische Fragen debattiert wurden, die keiner parteipolitischen Logik folgen mochten. So war es zum Beispiel im April 2019, als die Abgeordneten darüber diskutierten, ob Krankenkassen Bluttests bezahlen sollten, mit denen sich feststellen lässt, ob ein ungeborenes Kind das Downsyndrom hat.
Es ist vollkommen klar, dass eine Impfpflicht, die die alte Bundesregierung, gestützt von der Großen Koalition, bei Beginn der Pandemie kategorisch ausschloss, eine ethisch ebenfalls weitreichende Entscheidung ist. Dass Abgeordnete nur ihrem Gewissen verpflichtet sind, war übrigens als verfassungsrechtlicher Normalfall gedacht. Und nicht als Ausnahme. Bei der Corona-Impfpflicht spricht vieles dafür, den Fraktionszwang aufzuheben. Ein paar Beispiele: Es gibt Abgeordnete in Reihen von SPD und Union – einer von ihnen ist Jens Spahn, der frühere Bundesgesundheitsminister –, die sich an ihr Versprechen gebunden fühlen, dass es keine Impfpflicht geben werde. Und man muss es keinem Abgeordneten einer liberalen Partei übel nehmen, sich mit einer Pflicht schwerzutun oder sie - umgekehrt - entgegen der Parteitraditionen zu befürworten.
Das parlamentarische Verfahren ist nie auf Hauruck angelegt, auch wenn einige Entscheidungen zu den großen Finanzkrisen, als Abgeordnete über Nacht mit extrem weitreichenden Beschlüssen konfrontiert waren, diesen Eindruck erweckt haben mögen. Es gibt drei Lesungen zu den Gesetzentwürfen und Anträge, sie zu verändern. Und es gibt, sehr wichtig, die Arbeit in den Ausschüssen, in denen die Parteien Expertinnen und Interessenvertreter um Expertise und Meinung zu den neuen Paragrafen bitten. Meistens laden Parteien nur Sachverständige ein, von denen sie erhoffen können, dass die eigene Fraktionslinie unterstützt wird. Dennoch sind diese öffentlichen Anhörungen oft sehr lehrreich und informativ. Im Falle einer Corona-Impfpflicht kann es nun dazu kommen, dass sich ein CSU-Abgeordneter in einer Gruppe mit einer Linken-Politikerin zusammenschließt, die dann gemeinsam einen Expertenrat einholt. Das ist für alle ein Gewinn. Den Livestream der Ausschusssitzung werde ich mir sicher ansehen!
Niemand weiß, ob am Ende eine Impfpflicht steht. Omikron verändert viel, alles ist dynamisch, vielleicht sind die vielen ungeimpften Menschen bald schon alle infiziert. Aber eine detaillierte, fraktionsübergreifende und ruhige Arbeit des Parlaments wird all jenen den Wind aus den Segeln nehmen, die von einer "Corona-Diktatur" schwurbeln.
Und das ist in dieser Zeit sehr viel wert.
Man kann alles mit gewundenen
Man kann alles mit gewundenen Worten ins Gegenteil diskutieren. Mein Körper darf nicht mit einer Impfung belästig werden. Die der Anderen mit Erkrankung umso mehr. Impfen bedeutet immer auch Risiko, Krankheiten haben grössere und können tötlich sein. Der Star-Jurist Kubicki hat bedauert, dass seine 50jährige Überzeugung von Wandel durch Handel zunichte ist. Diesem professionellen Impfgegner droht diese Erkenntnis schneller. Wenn man selbst oder die Nächsten betroffen sind, könnte auf ewig mit den Spätfolgen Corona kein Ende nehmen. Das GG hilft dann auch nicht mehr. Dann doch lieber einen Pieks vom Staat.
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