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Lesen gegen den Krieg (oder um ihn zu verstehen)
In Krisen- und Kriegszeiten erhofft man sich Orientierung von der Literatur. Doch die aktuellen Meinungsäußerungen von deutschen Schriftstellerinnen und Schriftstellern waren eher enttäuschend, das übliche feuilletonistische Debatten-Pingpong. Zum Glück hatte ich schon Jahresbeginn einen guten Vorsatz gefasst und mir eine neue Leseregel gegeben.
22.04.2022

Abwechselnd lese ich seit dem 1. Januar im Wechsel ein neues und ein altes Buch. Ich war enttäuscht von manchen Neuerscheinungen und unzufrieden mit mir, weil ich so viele Bücher aus der sogenannten back list nie gelesen hatte. Meine neue Regel hilft mir, bei Neuerscheinungen genauer auszuwählen und mich von Altem überraschen zu lassen.

Zum Beispiel von Swetlanas Alexijewitschs „Secondhand-Zeit“. Darin beschreibt die Literaturnobelpreisträgerin das katastrophale Ende der Sowjetunion und die kaum fassbaren Umwälzungen der Perestroika. Sie tut dies, indem sie die Menschen, die dies zu durchleben hatten, selbst zu Wort kommen lässt: ehemalige Lagerhäftlinge, Mütter gefallener Soldaten, Veteranen aus dem Großen Vaterländischen Krieg gegen die Deutschen, Ehefrauen und Kinder, die von ihren verstörten, alkoholkranken Männern Gewalt erleiden, ehrliche Bürger, denen Banditen alles genommen haben, alte Männer und Frauen, die immer noch an Stalin glauben, obwohl sie unter ihm ins Lager gekommen waren, Jugendliche, die vergeblich von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit träumen, Menschen in den ehemaligen Teilrepubliken, die nun von Pogromen erschüttert werden, Russinnen und Russen, die an ihrer Nation verzweifeln und doch auf eine Wiedererrichtung des verlorenen Imperiums hoffen.

Als dieses epochale Stimmen-Mosaik 2013 auf Deutsch erschienen ist, hatte ich es verpasst. Jetzt lese ich es und beziehe es natürlich auf den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Die blanke Verachtung des Putin-Regimes für Völkerrecht und Menschenrechte, die ungehemmte Brutalität der russischen Kriegsführung, die Zerbombung von Städten, die Morde, Vergewaltigungen und Plünderungen erhalten dabei eine historische Tiefendimension. Das nimmt ihnen nichts von ihrem Schrecken, zeichnet sie aber in eine lange Geschichte der Rechtlosigkeit und Gewalt ein. Beschämt denke ich daran, wie wenig mir all dies vor Augen stand. Ernüchtert denke ich daran, wie schlecht wir bei diesem zentralen Thema regiert worden sind.

Ein dickes, dichtes Buch über Armut, Elend, Hunger, Wodka, Gewalt und Traumatisierungen lässt danach fragen, wie überhaupt noch Hoffnung möglich ist. Ein Meer der Finsternis ohne Ufer, so scheint es. Aber da ist dieses Buch – und viele andere –, das selbst ein Hoffnungszeichen darstellt, weil es den einfachen, entrechteten, ausgebeuteten, vergewaltigten, traumatisierten Menschen in Russland, der Ukraine oder Weißrusslands Gehör verschafft, ihre Geschichten aufnimmt und weitergibt, so dass wir sie lesen, uns von ihnen anrühren und zum Nachdenken bringen lassen, an ihnen unser Urteil schärfen und uns zu einem Engagement für das Gute inspirieren lassen können.

P.S.: Sehr empfehlenswert ist der FAZ-Bücherpodcast zum Thema: Paul Ingendaay spricht mit Katharina Raabe, die im Suhrkamp Verlag für osteuropäische Literatur verantwortlich zeichnet, über Bücher aus der und über die Ukraine.

P.P.S.: Und in meinem Podcast „Draußen mit Claussen“ spreche ich mit meiner Hamburger Kollegin Katharina Gralla über den unerforschten Kontinent namens „Gottesdienst“.

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220427 Sehr geehrter Herr Clausen!
Wenn man liest, wie die russischen Fundamentalideologen der härtesten Stufe im russischen TV reden dürfen, ergibt sich mit Ihrem Lese-Bericht ein klares Bild. Das wird auch von der Geschichte für den Krieg in der Ukraine bestätigt. Die Nationalisten und Vordenker sagen offen Ihr Credo: "Unsere nationale Ideologie ist der Krieg". Es ist nicht bekannt, welchen Einfluss sie auf Putin haben. Da sie aber dort in der zensierten Öffentlich so drohen dürfen, ist es eigentlich schon als Beweis für die staatlichen Absichten genug. Oder ist Putin gar schon als Rasputin deren Werkzeug? Die Fortsetzung der „Spezialoperation zur Besetzung der Ukraine“ ist ein untrügliches Zeichen. Nicht nur die baltischen Staaten fühlen sich bedroht. Wir sollten es auch sein. Denn das Herrschaftsgebiet der ehemaligen Russischen Großmacht (Ziel) ging zuletzt (1989) bis an den Brocken. Und zu Ostern gehen mit der „österlichen Friedens-Botschaft“ Gruppen/Personen auf die Straße, die nicht der Lage sein wollen, die Geschichte zu lesen. Ihre Anführer sind häufig akademisch vorgebildet. Aber soweit geht die Einsicht nicht, will man sie auch nicht haben. Denn diese unangenehme Einsicht würde ja ihr Weltbild zerstören, obwohl sie alles hätten wissen müssen. Ein bedingungsloser Pazifismus ist in letzter Konsequenz auch das Einverständnis damit, dass man den Mächtigen nicht daran zu hindern gedenkt, auf Kinderköpfe zu schießen. MfG Leo Aul

Vielen Dank für diese Reaktion! Ein unbedingter Pazifismus scheitert an dieser Gewaltdynamik. Ich kenne viele pazifistische Freunde, die ich sehr respektiere und die jetzt neu nachdenken (das muss ich selbst allerdings auch). Obwohl selbst kein Pazifist würde ich ungern über den pazifistischen Impuls verzichten. Wir brauchen ihn auch - auch als Korrektiv gegenüber einem kriegerischen Ton, der mich bei manchen gegenwärtig auch befremdet.

Mir kommt immer noch das Grauen, wenn ich im TV Bomberverbände aus 44+45 höre. PAZIFISMUS
als Ideal, es gibt nichts friedvolleres und christlicheres. Aber ist es auch christlich, nur, um den eigenen Idealen gerecht zu werden, tatenlos zuzusehen, wie Unschuldige masakriert werden? Das sind Ideale, die die Nächstenliebe verhöhnen. Diese "Ideale" an sich selbst angewendet und Leben und Glaube sind dahin. AT + NT sind Beweis für den Zwiespalt, den keine Exegese zu lösen vermag.
MfG Leo Aul.

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur