Mykola
Mykola Gauk an seinem Lernplatz in Worms. Den Unterricht hört er übers Smartphone mit. Die Lehrer und Schüler sind teilweise in ganz Europa verstreut. Foto: Marta Thor
Marta Thor
Lernen am Küchentisch statt im Bunker
Ukrainische Kinder und ihre Lehrerinnen und Lehrer treffen sich über Europa verteilt zum Onlineunterricht. Das gibt ein bisschen Stabilität.
Carsten Selak
01.04.2022

Mykola seufzt. Er setzt sich mit seinem Smartphone an den Schreibtisch, wählt sich auf die Onlineschulplattform ein. Es dauert nur wenige Sekunden, da sieht er seine Geschichtslehrerin vor sich. Sie erzählt etwas über die alten Griechen, Römer und Ägypter. Ziemlich langweilig findet er das. Sehnsüchtig schaut er nach draußen, wo die Sonne über den Dächern von Worms scheint. Viel lieber würde er jetzt einen Ball über den Rasen kicken.

Mykola im Wormatia Worms Trikot

Carsten Selak

Marta Thor

Marta Thor ist freie Journalistin und Fotografin. Seit 2021 arbeitet sie als Social-Media- und Online-Redakteurin für chrismon.de. Sie hat an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Allgemeine Rhetorik & Neuere Englische Literatur studiert und in der Verlagsgruppe Rhein-Main volontiert. Seit 2022 berichtet sie als Korrespondentin aus Polen für ZDF, Deutsche Welle und weitere Medien.

Was wie normaler Alltag für Schüler während der Corona-Pandemie klingt, ist das neue Leben von Mykola Gauk. Der Elfjährige ist vor vier Wochen mit seiner Mutter Uljana aus Lemberg (Lwiw) im Westen der Ukraine geflüchtet. Sirenengeheul gehört seit Kriegsbeginn zum Alltag für die Einwohner. Uljana Gauk zögerte nicht, als ihre Tante aus dem rheinland-pfälzischen Worms anrief und ihr eine leerstehende Wohnung anbot. Die zwei Koffer für sie und Mykola waren schnell gepackt. Die 23-jährige Tochter ist Zahnärztin und wie ihr Vater in der Ukraine geblieben. Uljana macht sich große Sorgen.

Worms soll für sie nur eine kurze Station sein. Uljana will sich gar nicht häuslich einrichten: hier ein Tisch aus den Siebzigern, den Mykola als Schreibtisch nutzt, da eine abgenutzte rote Couch, im Schlafzimmer ein wuchtiges hellblaues Doppelbett. "In Lemberg ist mein ganzes Leben. Dort habe ich ein Haus, dort ist meine Familie, dort habe ich einen guten Job", sagt Uljana. Sie leitet die Zahnarztpraxis ihres Mannes. Mykola besucht eine Privatschule. Er soll möglichst bald wieder dorthin gehen. "Vielleicht ist in zwei bis drei Monaten alles ausgestanden", sagt Uljana.

Freunde wenigstens virtuell zu sehen, ist so wichtig

Es ist diese Hoffnung, die sie mit ihrer Schwägerin Oksana Zuk teilt. Oksana kam eine Woche später mit ihren Töchtern Ola, 10, und Maria, 7, nach. Der Krieg könnte ja bald vorbei sein, dann könnten sie wieder zurück in ihr altes Leben. Die Kinder zurück in ihre Schule, zu ihren Freunden, in ihr gewohntes Umfeld. Deshalb machen die drei Kinder in Deutschland ukrainisches Homeschooling. Zumindest bis zum Ende des laufenden Schuljahres Ende Mai, sagt Uljana.

Für die Kinder sei die neue Umgebung eine große Umstellung, sie wolle ihnen nicht noch ihre Freunde und Lehrer nehmen. "Die Kinder freuen sich, dass sie ihre Klassenkameraden virtuell sehen können. Das gibt ihnen Stabilität", glaubt sie. Deshalb haben sie und Oksana vorausschauend die Schulbücher eingepackt.

Über vier Millionen Menschen sind aus der Ukraine geflüchtet, sie sind irgendwo in Europa. Olas Mathelehrerin ist in Deutschland, Mykolas Geschichtslehrerin in Tschechien, die Englischlehrerin in Spanien. Jeden Tag haben die Kinder vier Fächer, je 45 Minuten pro Einheit, plus Hausaufgaben. In einigen Ländern möchten die Schulbehörden eine Bestätigung der ukrainischen Schulen, dass die Kinder weiterhin am Onlineunterricht teilnehmen.

Uljana Gauk und Oksana Zuk (r.) schauen den Kindern im Wormser Wäldchen beim Spielen zu

Nicht einfach, beide Schulangebote zu verbinden

Sind die geflüchteten Kinder in Deutschland, sind sie berechtigt, eine deutsche Schule zu besuchen, unabhängig von ihrem Status. Eine Schulbesuchspflicht besteht erst dann, wenn sie registriert sind und einer Kommune zugewiesen werden. In Rheinland-Pfalz wird das ukrainische Lernangebot, das unter großen Kraftanstrengungen der Lehrkräfte aufrechterhalten wird, respektiert. Man versucht, zumindest bis zum Ende dieses Schuljahres beide Schulangebote unter einen Hut zu kriegen. Wie, das bleibt jeder Schule selbst überlassen. Perspektivisch will das Land einen Herkunftssprachenunterricht Ukrainisch einrichten. Deutsche Schulämter halten jedoch eine Regelbeschulung und die Teilnahme an Deutschintensivkursen für wichtig.

Während der Pandemie haben sich die meisten Schüler ohnehin an den Onlineunterricht gewöhnt. "Ich gehe nicht gerne zur Schule", sagt Mykola und verzieht dabei das Gesicht. Aber Onlineschule, das geht schon. Mit dem Homeschooling hat er mehr Zeit für das, was ihm wirklich Spaß macht: Fußball spielen. In Lemberg spielte er in der Jugendmannschaft des Fußballvereins Karpaty Lwiw. In Worms trainiert er jetzt bei Wormatia. Sein deutscher Trainer nimmt ihn am Wochenende sogar schon zu Turnieren mit, erzählt er stolz.

Durch den Verein bekommt der Junge schnell Kontakt zu deutschen Kindern und lernt die Sprache. Aber die Schule, das sei etwas anderes, sagt seine Mutter. Der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskyj selbst hat – wo es möglich ist – zum Homeschooling aufgerufen. Die zuständigen Schulbehörden haben daher kaum eine Woche nach den ersten Angriffen der Russen bereits alle Schüler und Lehrer zurück in den Unterricht geholt – online. Die Schulen könnten ohnehin nicht mehr physisch genutzt werden. Dort wurden Auffanglager für Flüchtende aus Mariupol, Charkiw und anderen stark zerstörten Städten und Gemeinden eingerichtet. Aber das Homeschooling-System, das während der Pandemie so gut funktioniert hat, lässt die großen Entfernungen zwischen Schülern und Lehrern auf die Dicke eines Smartphones oder Tablets zusammenschmelzen.

Sie wollen nicht länger als nötig hierbleiben

Und warum auch nicht? Oksana Zuk beispielsweise bangt um den Schulplatz ihrer Tochter Ola, sie besucht die fünfte Klasse eines guten Gymnasiums. Auch Oksana hat nicht vor, länger als nötig in Deutschland zu bleiben. In der Ukraine ist sie kaufmännische Leiterin eines großen Baumarkts mit über 500 Angestellten. In Deutschland kann sie nur untätig herumsitzen und warten. In Worms wohnt sie mit ihren zwei Töchtern in einer Dachgeschosswohnung im gleichen Haus wie Uljana. Ola lernt meist an einem Tischchen unter dem Dachfenster im Schlafzimmer und überlässt ihrer kleinen Schwester Maria den Küchentisch. Die Erstklässlerin darf auch das größere Tablet nutzen. Manchmal helfen ihr die Schwester und ihr Cousin mit kniffligen Aufgaben weiter. Maria ging gern in die Schule. Der gewohnte Unterricht und die Entfernung zur Ukraine lassen sie die Sirenen, die sie nachts aufschrecken ließen, langsam vergessen.

Ola und Maria Zuk mit Mykola Gauk (v.l.) beim Lernen. Die Großen helfen der Kleinen bei ihren Aufgaben

Nur drei Monate bis zum Examen

Für Anna Pasynkowa, 30 Kilometer nördlich im rheinhessischen Alzey, bleibt Homeschooling ein Wunschtraum. Die 17-Jährige besuchte in der ukrainischen Hauptstadt Kiew bereits die Abschlussklasse. Nur noch drei Monate, und sie hätte ihr Examen gehabt, mit dem sie zum Studium zugelassen worden wäre. Sie und ihre Mitschüler fragten daher ihre Lehrer in Kiew, ob nicht auch sie Homeschooling anbieten könnten. Doch anders als in Lemberg sind die verbliebenen Lehrer und Schüler in der Hauptstadt den russischen Angriffen ausgesetzt. "Viele Schüler sitzen in Bunkern. Dort haben sie nicht mal Empfang", sagt Anna. Andere seien über die Grenzen geflohen. Ihre Klassenlehrerin etwa habe auf der Flucht keine Bücher, keine Übungsblätter mitgenommen.

Anna besucht also seit wenigen Tagen eine deutsche Schule. Sie ist vorerst in einer Auffangklasse für ukrainische Flüchtlingskinder, vom Stoff eher Klasse neun, viel zu einfach. Aber die Sprache! "Der Mathelehrer wollte die Lösung wissen. Ich habe es gewusst und mich gemeldet. Doch dann wollte er, dass ich ihm den Lösungsweg auf Deutsch erkläre. Das konnte ich nicht", erzählt sie von ihrem ersten Schultag.

Es gefällt ihr zwar gut an der deutschen Schule, doch die Aussicht auf zwei, gar drei weitere Schuljahre bis zur Fachhochschulreife: ein Riss im Lebenslauf. Im Herbst wollte Anna eigentlich mit dem Studium beginnen, Politikwissenschaften in Kiew. Jetzt überlegt sie, das deutsche Abitur zumindest in einer bilingualen Klasse abzulegen. Doch bis dahin ist es ein weiter Weg …

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Sehr geehrte Damen und Herren!
Frieden zu machen ist meist nur mit einer sehr, sehr großen Portion Einsicht erreichbar. Ohne schmerzende Kompromisse und ohne Zugeständnisse dürfte daher nicht viel gehen, und das auf allen sämtlichen Seiten aller Streithähne.
Und schon liegt der Hase bereits im scharfen Pfeffer, oder!?
Gibt es vielleicht, endlich einen Waffenstillstand, gar einen Frieden(svertrag), dann dürfte dieser "Topfen auf dem heißen Stein", immer noch ziemlich kochend heiß vor sich hin köcheln.
Frieden geben, Frieden halten (können), friedlich bleiben zu können, um nicht gleich wieder bei jeder Nichtigkeit sofort voll ausrasten zu müssen, das ist eine hohe Kunst, die irgendwie viel mit Vergebung zu tun haben muss!
Der Frieden ist nur aushaltbar und ertragbar, wenn er gehegt und sorgsam gepflegt wird: "Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst!"
Eine Arbeit von mir heißt: "Ist es schon Kunst, mit Menschen auszukommen?"
Klaus P. Jaworek,