Esoterik – das klingt harmlos, nach Bleigießen an Silvester. Und auch eher links-alternativ. Warum haben Sie ein Buch über "rechte Esoterik" geschrieben?
Matthias Pöhlmann: Die moderne Esoterik ist beides, Alltagsphänomen und Krisensymptom. Fast jeder Mensch hat im Freundes- und Bekanntenkreis jemanden, der sich mit esoterischen Praktiken beschäftigt, Tarotkarten legt oder Workshops besucht. Das ist ein eher spielerischer Umgang.
Aber?
Nicht alles, was uns in der Esoterikszene begegnet, bleibt auch spielerisch, vieles kann auf Abwege führen. Die moderne Esoterik ist sehr sensibel für gesellschaftliche Krisen. Durchgängige Themen sind Heilung, Ernährung, Pädagogik, aber zunehmend auch die Politik, besonders seit der Corona-Pandemie. Es gibt einen engen Zusammenhang zwischen Esoterik und Verschwörungstheorien.
Matthias Pöhlmann
Warum ist das so?
Das hängt damit zusammen, dass die moderne Esoterik ein absolutes Wissen beansprucht, das nur erleuchteten, sensitiven Menschen zugänglich ist. Das ist eine wissenschafts- und vernunftkritische Haltung – und ein Einfallstor für Verschwörungserzählungen.
Was genau ist Esoterik?
Es gibt sehr unterschiedliche Definitionen. Das Wort stammt aus dem Altgriechischen, esoterikós, und bedeutet: nach innen gewandt. Im 2. Jahrhundert stand es für eine philosophische Denkschule. Anfang des 19. Jahrhunderts taucht plötzlich das Substantiv Esoterik auf, es ist also wesentlich jünger. Es ging um einen dritten Weg, neben Wissenschaft und Religion. Damals entstanden richtige systemesoterische Entwürfe wie die Theosophie oder die Anthroposophie von Rudolf Steiner. Heutzutage hat sich ein regelrechter esoterischer Markt und eine Szene entwickelt. Die moderne Esoterik erhebt einen Totalitätsanspruch, für jede Lebenslage eine Erklärung und Lösung bereitzuhalten. Das spiegelt sich klar an Titeln auf dem esoterischen Buchmarkt wider. Und auf diesem Buchmarkt habe ich beobachtet, dass verstärkt rechtsesoterische Literatur im Umlauf ist. So wird Literatur zum trojanischen Pferd für rechtsextremes Denken.
Was macht Esoterik zur rechten Esoterik?
Das ist dann der Fall, wenn esoterische Deutungen an rechtes Denken anknüpfen und es spirituell überhöhen – beispielsweise, wenn es heißt, die Weltgeschichte sei karmisch vorbestimmt. In dieser Lesart sei das Schicksal der Juden im Nationalsozialismus so etwas wie verdientes Karma. Die Nazis wären dann keine Schuldigen und Täter, sondern Erfüllungsgehilfen der Vorbestimmung – absurd und gefährlich! So wie Esoteriker jede Krankheit gern durch Karma erklären, wird zunehmend auch Politik damit erklärt. Es liegt auf der Hand, dass so ein Denken antidemokratischen und verschwörungstheoretischen Deutungen Tür und Tor öffnet. Es ist zudem dualistisch, weil man sich einem Schwarz-Weiß-Schema aussetzt. Als Wissender oder Überwissender weiß man vermeintlich mehr - die anderen, das sind die Unerleuchteten, die keinen Zugang zum Licht haben. Und in der rechten Esoterikszene gibt es Menschen, die massive Feindbilder pflegen. Auch das ist gefährlich.
Wenn die Überwisser merken, dass sie gar nicht recht behalten, weil die Geimpften im September doch nicht alle tot umgefallen sind, wie in der Szene ja auch zu lesen war - fallen da nicht auch viele Menschen vom esoterischen Glauben ab?
Nein. Dann heißt es oft, die Menschheit sei noch nicht so weit, man müsse noch am richtigen Lichtlevel arbeiten. Es ist ein geschlossenes System, in sich logisch, und wenn ein Ereignis doch nicht eintritt, wird noch eine weitere Verschwörungserzählung ins Gespräch gebracht. Denken Sie an den Maya-Kalender. Es hieß, am 21. Dezember 2012 gehe die Welt unter. Das war ein Hype in der Esoterikszene. Der Weltuntergang ist bekanntlich ausgeblieben. So ein Datum wird dann umgedeutet als Startschuss dafür, dass wir doch erst den großen Bewusstseinswandel vorbereiten müssten ...
Wie groß ist die Esoterikszene?
Das lässt sich nicht mit einer Zahl beziffern. Die Umsatzzahlen für Bücher und Seminare lassen darauf schließen, dass die Szene groß ist. Schätzungen belaufen sich auf 15 bis 20 Milliarden Euro, die pro Jahr umgesetzt werden. Etliche Bücher haben in kurzer Zeit mehrere Neuauflagen erlebt, auch das ist ein Indiz.
Milliardenschwer ist auch der Markt für Homöopathie, die auf die anthroposophische Lehre Rudolf Steiners zurückgeht und die sich immer wieder der Kritik ausgesetzt sieht, weil einige Krankenkassen für homöopathische Präparate aufkommen. Müssen wir dieses Thema noch stärker diskutieren?
Unbedingt, denn es gibt auch in dieser Szene missionarische Aktivitäten. Die wissenschaftsbasierte Medizin wird abschätzig dargestellt, als Schulmedizin, ein Begriff, der aus der Zeit des Nationalsozialismus kommt. Eine andere Verunglimpfung ist das Wort Apparatemedizin. Dabei werden auf Esoterikmessen enorm teure Apparate angeboten, mit denen man gesund oder heil werden soll.
"Viele Menschen suchen Sinn, Erfahrungen, Erlebnisse, nach Körperbezug. Da haben die Kirchen Nachholbedarf."
Sucht, wer der Esoterik anhängt, vielleicht einfach nur nach Sinn? Und haben die Kirchen dieses Bedürfnis übersehen?
Wir bewegen uns heute einerseits in einer hoch technisierten Welt, nutzen Computer und soziale Netzwerke, ohne die die Rechtsesoterik übrigens auch weniger verfangen würde. Gleichzeitig sind wir in verzauberten Welten unterwegs. Das Diktum des Neutestamentlers Rudolf Bultmann aus den 60er Jahren hieß damals: "Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben." Heute können die Menschen beides miteinander vereinbaren: Sie bewegen sich inmitten digitalisierter Hochtechnologie und gleichzeitig in verzauberten Gegenwelten. Säkularisierung, Individualisierung, Pluralisierung - all diese Trends spiegeln sich in der Esoterikszene wider. Viele Menschen suchen Sinn, Erfahrungen, Erlebnisse, nach Körperbezug. Da haben die Kirchen Nachholbedarf – vor allem auch dabei, ihre Botschaft so zu äußern, dass sie die Menschen auch erreicht. Wir müssen beides leisten, Dialog, aber auch Differenzpflege.
Was meinen Sie damit?
Das heißt, die Suchbewegungen ernst zu nehmen, aber auch Unterschiede zu benennen. Ich plädiere für Mitmenschlichkeit, also für das, was Christen Nächstenliebe nennen. Auch die Feindesliebe gehört dazu. Das ist anstrengend. Wir müssen versuchen, uns in den anderen hineinzuversetzen.
Mal angenommen, ich sehe bei einer Verwandten esoterische Bücher aus einschlägigen Verlagshäusern wie beispielsweise dem Kopp-Verlag. Was kann ich tun?
Es hilft, klar zu sein. Sie können sagen: "Ich sehe, du liest so etwas – aber ich habe dabei Bedenken. Aber erzähl doch mal, was dir daran wichtig ist!" Mit dieser Haltung mache ich in meiner Beratungsarbeit gute Erfahrungen. Man muss nach dem Motiv- und Lebensthema fragen. Es ist das Schlüssel-Schloss-Prinzip - damit ein esoterisches Angebot greifen kann, muss eine Person dafür ansprechbar sein.
Welche Rolle spielt die Corona-Pandemie aktuell bei Ihrer Arbeit?
Der Informations- und Beratungsbedarf hat enorm zugenommen. Die Pandemie ist eine massive Krise. Sie bedeutet Ohnmacht und Kontrollverlust: Menschen versuchen, sich mit Verschwörungstheorien die Frage zu beantworten, worin der Sinn in dieser furchtbaren Krise besteht. Leider führt sie diese Suche schnell zu Feindbildern – dass große, mächtige Drahtzieher dahinterstehen, die dunkle Interessen verfolgen und alle Menschen mit einem Chip impfen oder einen Bevölkerungsaustausch vorbereiten wollen. Nur den - wie es oft abschätzig heißt - Schlafschafen sei diese Erkenntnis nicht gegeben.
Kann man Menschen aus dieser Denke herausholen?
Es gibt kein Patentrezept. Aber einen Tipp habe ich. Man kann versuchen, mit diesen Menschen über ihre Erfahrungen zu sprechen, die sie machen, seit sie so denken. Denn manche haben auch schon Leid erfahren, weil Freundschaften zerbrochen sind. Aber ich rate dazu, Grenzen zu setzen, besonders wenn rote Linien erreicht sind und rassistische, antisemitische, menschenverachtende Thesen vertreten werden. Es ist wichtig, dann sofort zu widersprechen. Keinesfalls sollte man den Kontakt abbrechen, aber man kann sich eine Auszeit nehmen.
"Wenn man andere verunglimpft, vertieft das die Gräben."
In den sozialen Netzwerken hagelt es Kritik für Verschwörungsgläubige. "Covidiot" ist so ein Schlagwort. Hilft uns das weiter?
Auf keinen Fall. Wenn man andere verunglimpft, vertieft das die Gräben. Es ist wichtig, sich auf Augenhöhe zu begegnen. Damit das klappt, kann man Vereinbarungen treffen, indem man zum Beispiel sagt: Ich teile deinen Standpunkt nicht, aber ich möchte wissen, wie du denkst. Es ist aber auch wichtig, dass du mir zuhörst.
Welche Rollen kann die Kirche bei so einem Prozess spielen?
Untersuchungen der Uni Münster haben gezeigt, dass Menschen, die in einer Religionsgemeinschaft beheimatet sind, weniger offen sind für Verschwörungstheorien. In einer Gemeinschaft zu sein, führt dazu, dass ich mich erstens aufgehoben fühle und zweitens in meinen Auffassungen korrigiert werden kann. Das ist eine Weg- und Lerngemeinschaft, die für zweifelnde Esoteriker interessant sein kann. Ich weiß aus meiner Arbeit, dass Menschen, die Verschwörungstheorien anhängen - und der Weg führt oft über die Esoterik - sich in alternativen Medien verlieren. Das kann zu einem regelrechten Suchtverhalten führen. Das echte Leben bleibt bei vielen dieser Menschen auf der Strecke, zumal die Esoterik stets sehr ichbezogen ist. Man kreist immerzu um das eigene Befinden, auch das kann in die Überforderung und Vereinzelung führen.
Allerdings handeln Religionen von Erzählungen, die wir heute, in einer Zeit, in der wir unsere Erkenntnisse wissenschaftlich absichern können, kaum mehr glauben können. Das macht es doch schwer, Menschen anzusprechen, die komplett irrationalen Theorien anhängen!
Die zentrale Botschaft des Christentums ist, dass es einen gekreuzigten und wieder auferstandenen Jesus Christus gibt. Diese Botschaft ist nicht unbedingt anschmiegsam an alle Bedürfnislagen der Welt. Es ist die Torheit des Kreuzes, mit der der Apostel Paulus schon im Römerbrief argumentiert. Und es ist eine Botschaft, die ein Skandal bleibt, die aber auch ein Einspruch ist gegen - wie es Paulus sagt - die Weltweisheit.
Das müssen Sie bitte erklären!
Diese Weltweisheit besteht darin, dass die Rationalität manchmal auch zum Götzen erhoben werden kann oder ersatzreligiöse Funktionen erhält. Ich plädiere für einen gläubigen Realismus: alles prüfen und das Gute behalten! Gerade der christliche Glaube hat ein ideologiekritisches Potenzial. Wenn aus dem Vorletzten das Letzte gemacht wird, ist Einspruch nötig. Und das Letzte für Christen ist: Wir wissen, dass wir alle irgendwann sterben müssen – und vertrauen darauf, dass das nicht das Ende ist.
Das Vorletzte zum Letzten machen - meinen Sie damit Menschen, die in möglichst strengen Corona-Maßnahmen ihre Ratio und ihren Sinn finden und andere, die gut begründete Maßnahmenkritik äußerten, sofort als Leugner oder Schwurbler verunglimpfen?
Diese Pandemie polarisiert sehr stark. Die Maßnahmen, die gegen sie ergriffen wurden - das war zunächst auch ein Tasten im Nebel der Pandemie. Man wusste anfangs vieles nicht. Das muss auch noch mal aufgearbeitet werden, denn es gab massive Nebenwirkungen, besonders für Kinder, deren Eltern oder auch Selbstständige und Künstlerinnen. Und wir wissen heute noch nicht, welche Langzeitschäden die Pandemie in der Psyche der Menschen und besonders der Kinder und Jugendlichen verursacht.
Matthias Pöhlmann ist Autor des Buches: "Rechte Esoterik / Wenn sich alternatives Denken und Extremismus gefährlich vermischen", Herder-Verlag, 1. Auflage 2021, 304 Seiten, 22 Euro
Was für eine Überraschung
Wenn ich das Publikum auf Kirchentagen (zumindest ein Teil davon) ansehe und dann noch die Evangelikalen betrachte, die es auch bei uns mit ihrem verklärten Habitus gibt, habe ich das Gefühl, dass da Zusammenänge bestehen könnten. Die körperliche Entrückung ist von der spirituellen Vergeistigung nicht weit entfernt. Da sind dann auch die Dienste der "Kräuterweiblein" und der Homöopathie willkommen. Und der unrealistische und teilweise virtuelle Sprachschatz stärkt diesen Eindruck. Wenn ich höre und lese, dass "wir in die Hand Gottes eingeschrieben sind", ähnelt diese Formulierung doch stark an eine mit den schönsten Worten drapierte esotherisch-pietistische Realitätsverweigerung. Alle "Selbstgestrickten" und heimischen Spezial-Gebetskreise in ähnlicher Falle. Jetzt ist dieser Text auch schon so leicht unverständlich. Genauso wie so manche Predigt. Die Esotherik als eine irdische Vorstufe zur Religion? Da gibt es mehrere Interpretationsmöglichkeiten..
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Esoterik/Homöopathie
Die Homöopathie geht nicht auf Rudolf Steiner zurück, sondern wurde von Samuel Hahnemann 1755-1843 begründet.
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Klangschalen
Erst Luther mit dem vom Mammon unabhängigen Glauben. Dann die Aufklärung mit den Zweifeln am Glauben. Dann die Romantik als Ersatzbefriedigung für die Hoffnung des Unbegreiflichen. Dann eine hilflose Antwort von der Esotherik, den Astrologen und jetzt von den Verschwörungsgläubigen auf die romantischen Glückserwartungen.. Aber auf symbolische Insignien wollte man dann doch nicht ganz verzichten. Deshalb wurden die Glocken durch Klangschalen ersetzt.
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Verschwörung
Der Autor schreibt: "Die zentrale Botschaft des Christentums ist, dass es einen gekreuzigten und wieder auferstandenen Jesus Christus gibt." Weiteres Zitat: "Wir wissen, dass wir alle irgendwann sterben müssen – und vertrauen darauf, dass das nicht das Ende ist."
Aha, da haben sich also keine dazu verschworen, an Auferstehung und Ewiges Leben zu glauben. Schon bemerkenswert diese Sicht der Dinge! Insofern würde ein Interview unter der Überschrift "Glaube und Verschwörungstheorien hängen zusammen" eine ganz andere Kurve nehmen.
Friedrich Feger
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