"Es herrscht ein Bürgerkrieg der Worte"
Heinrich Bedford-Strohm hat Familie und Freunde in den USA und sorgt sich sehr, dass nach der Wahl verbale Attacken noch häufiger in physische Gewalt münden könnten.
Tim Wegner
26.10.2020

Sie haben Familie und Freunde in den USA. Wie nehmen Sie die Stimmung dort wahr eine Woche vor der Wahl?

Heinrich Bedford-Strohm: Die Stimmung ist extrem angespannt, das Land tief gespalten, bis in die Familien hinein. Politik ist ein Thema geworden, über das man sich nicht mehr zu reden traut, weil es so emotional besetzt ist. Ehepartner, die anders denken, klammern das Thema aus, um die Beziehung nicht zu vergiften. Die einen sind verzweifelt über Trump und würden in eine tiefe Depression rutschen, wenn er wiedergewählt würde. Die anderen jubeln. Das ist auch für mich, der ich dieses Land liebe, sehr traurig. 

Thomas Meyer/Ostkreuz

Heinrich Bedford-Strohm

Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, Jahrgang 1960, ist seit 2011 Landes­bischof der Evangelisch-Lutherischen ­Kirche in Bayern. Bis November 2021 war er Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Herausgeber des Magazins chrismon. Bevor er Bischof wurde, war er an der Universität Bamberg Professor für Systematische Theologie und theologische Gegenwartsfragen.
Tim Wegner

Claudia Keller

Claudia Keller ist Chefredakteurin von chrismon. Davor war sie viele Jahre Redakteurin beim "Tagesspiegel" in Berlin.

Ist die Demokratie beschädigt?

Grundlegende Regeln des demokratischen Diskurses gelten nicht mehr. Fake News ist ein geflügeltes Wort geworden, viele unterscheiden nicht mehr zwischen Wahrheit und Lüge und glauben nur das, was in ihrer eigenen Blase kommuniziert wird. Das Weltbild von Trump-Anhängern ist durch nichts zu verunsichern, egal, was der Präsident tut. Argumente zählen nicht mehr, sondern hoch geputschte Gefühle, die zum Teil nichts mehr mit der Realität zu tun haben. Wie kann man dem demokratischen Diskurs, dem Austausch von Argumenten, was ja die Grundlage der Demokratie ist, wieder zur Geltung verhelfen? Viele sind ratlos.

In den USA spielt die Religion für die Politik eine zentrale Rolle. Wie wirkt sich das aus?

Man muss leider sagen, dass Religion auch zur Legitimierung für politische Handlungen benutzt wurde, die in tiefem Widerspruch zum Christentum stehen. Wenn man die Grundhaltung Jesu ernst nimmt, seine radikale Liebe, muss man klar widersprechen, wenn Religion missbraucht wird für menschenfeindliche Haltungen. Auch wenn das zu harten Auseinandersetzungen führt. 

Wie positionieren sich die großen Kirchen im Wahlkampf?

Es gibt große Unterschiede. Die Mainline Churches, die den großen etablierten Kirchen in Deutschland ähneln, haben sich eher gegen Trump positioniert. Dazu gehören die United Church of Christ und die Evangelical Lutheran Church. Die United Church of Christ zum Beispiel, die zu unseren Partnerkirchen zählt, hat Trump immer wieder klar widersprochen. Aber das ist eben nur eine Kirche im großen Spektrum der Kirchen in den USA.  

Die Mehrheit der Evangelikalen hält fest zu Trump. Wie erklären Sie sich das?

Auch da gibt es durchaus Unterschiede. Zunächst mal sind viele schwarze Christen auch Evangelikale, und die wählen mehrheitlich nicht Trump. Auch viele weiße Evangelikale sagen, wer fromm ist, kann sich nicht so äußern, wie es Trump tut. Aber eine Mehrheit steht hinter Trump, weil er sich gegen Abtreibung positioniert. Ich kenne sehr liebenswerte, sympathische Evangelikale, von denen man sich nicht vorstellen kann, dass sie Trump wählen, einen Mann, der alles an Umgangsformen vermissen lässt und alles konterkariert, was mit Liebe zu tun hat. Aber sie tun es doch. 

"Viele fragen ihre Eltern: Ihr habt mich christlich erzogen, wie könnt ihr immer noch jemanden wie Trump wählen?"

Woher kommt die Fixierung auf die Abtreibung?

Das hat in einigen Regionen der USA eine lange Tradition in den evangelikalen Gemeinschaften. Auch in Deutschland diskutieren wir viel über den Schutz des Lebens und haben im Embryonenschutzgesetz festgeschrieben, dass menschliches Leben bei der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt. Die Engführung auf dieses Thema und dass dabei nur eine einzige Position denkbar ist, ist uns fremd. Ich habe aber den Eindruck, dass sich unter den jungen Evangelikalen in den USA etwas verändert. Sie denken pro life ganzheitlicher: Sie engagieren sich für den Kampf gegen Klimawandel und gegen rassistische Polizeigewalt. Sie protestieren gegen die Familientrennungen an der Grenze zu Mexiko. Homosexualität ist für sie kein Reizthema mehr. Viele fragen ihre Eltern: Ihr habt mich christlich erzogen, wie könnt ihr immer noch jemanden wie Trump wählen? Sie denken freier und sind kritischer gegenüber Trump. So nehme ich das zumindest in meinem persönlichen Umfeld wahr.

Haben Sie Sorge, dass es zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen könnte nach der Wahl, egal, wer gewinnt?

Es herrscht jetzt schon ein Bürgerkrieg der Worte. Die Polarisierung und Desinformation werden von Youtube und Facebook durch ihre empörungsgetriebenen Algorithmen zur Optimierung der Werbeerlöse verstärkt. Seit den Zusammenstößen mit gewaltbereiten Rechtsextremen in Charlottesville sehen wir jetzt immer wieder, dass diese verbalen Konflikte in physische Auseinandersetzungen münden. Ein Freund, der viel in Los Angeles ist, erzählte mir, dass dort die Waffen ausverkauft sind, weil sich so viele Menschen bewaffnen. Das besorgt mich sehr. In einem Zeitungsartikel über Northampton County habe ich gelesen, dass dort viele Menschen fürchten, dass Trump die Wahl nicht akzeptiert, wenn er verliert, und dass auf der Straße Kämpfe ausbrechen könnten. Hoffen wir, dass die Vernunft siegt.

Können die Europäer zur Deeskalation beitragen?

Wir können die großen Zukunftsherausforderungen klar benennen und die großen amerikanischen Kirchen unterstützen, wenn es um den Klimawandel geht, um den Kampf gegen Rassismus, um die Hilfe für Arme. Wir können außerdem darauf dringen, dass die kommunikative Infrastruktur der sozialen Medien auf das Gemeinwohl verpflichtet wird. Da ist Europa Vorreiter. Wichtig ist, dass wir uns nicht von den Emotionen der Verachtung anstecken lassen, sondern soweit wie möglich die Hand ausstrecken und versuchen, einander zu verstehen. Für Jesus war die Achtung vor den Menschen zentral. Wir müssen versuchen, das auch in den persönlichen Beziehungen zu leben. Vielleicht sogar das, was Jesus mit Feindesliebe meinte: dass man auch in denen, mit denen uns gar nichts verbindet, die politisch ganz anders denken, den Menschen sieht. Ich sehe keinen anderen Weg als den Weg Jesu, um in einer tief gespaltenen Gesellschaft Heilung zu ermöglichen. Aber das darf man nicht missverstehen als Harmonie um jeden Preis. Menschenfeindlichkeit ist mit der Lehre Christi nicht zu rechtfertigen.

Könnte sich auch Deutschland gesellschaftlich derart spalten?

Da sehe ich große Unterschiede. Wir haben eine ganz andere zivilgesellschaftliche Kultur, der demokratische Diskurs hat nach wie vor einen hohen Stellenwert, Rechtspopulisten sind eine Minderheit geblieben, trotz ihrer geschickten Nutzung des Internets und obwohl so viel Hass geschürt wird. Es gibt einen Grundkonsens, was die Achtung vor dem anderen Menschen angeht. Das zeigt sich auch jetzt während der Pandemie.

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Und dieser wettbewerbsbedingte Krieg begann mit der heuchlerisch-verlogenen Fehlinterpretation der Texte der Bibel!!!

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"Könnte sich auch Deutschland gesellschaftlich derart spalten?"

All die wettbewerbsbedingten Symptome wie Rassismus, Extremismus und Kriminalität, die zurzeit kampagnienartig immer wieder zu heuchlerisch-verlogener Empörung, Erschrockenheit und dem Ruf nach Verschärfung der Gesetze und Überwachung der Institutionen (besonders Polizei und Bundeswehr) führen, waren mir in meiner Jugend in den 70ern ganz genau so schon allgegenwärtig klar.
Es war mir damals schon bewusst warum und wie sich diese in der Allgemeinheit arrogant-ignorierte Symptomatik zur brutalen Spaltung weiter entwickeln würde, wenn sich die kreislaufende Unwahrheit, bis zur heutigen Realität, in allen denkbaren ...losigkeiten ENTKLEIDEN kann.

All die Großspurigkeit von Aufklärung, Modernität und Weltoffenheit, versinkt wie vorhergesehen im Morast und Gestank der schon immer deutlich als Überproduktion von Kommunikationsmüll mitwaberte!