Täter in der Familie
Was machte Großvater in der Nazizeit?
Gab es Täter in meiner Familie? Das will die Enkel- und Urenkelgeneration herausfinden. Ein Dossier für die eigene Recherche - mit einfachen und herausfordernden Tipps
Wehrmachtsoldat mit Hund auf einem alten, historischen Foto, alte Hand mit einem schwarzweißen Erinnerungsfoto, Altenheim
Das alte Foto zeigt einen Wehrmachtssoldat mit Hund
Thomas Born/mauritius
Tim Wegner
01.03.2023
19Min

Endlich Klarheit haben!

Was haben meine Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, Onkels, Tanten zur Zeit des Nationalsozialismus gemacht? Waren sie verstrickt in das Nazisystem? Waren sie gar an Verbrechen beteiligt? Das Interesse an diesen Fragen lässt nicht nach und steigt in der Enkel- und Urenkelgeneration jetzt sogar noch einmal an. Weil die Nachfahren spüren: Da ist was nicht erledigt.

Woran liegt das gestiegene Interesse? Zum einen daran, dass die meisten ZeitzeugInnen mittlerweile gestorben sind, so dass die nachfolgenden Generationen sich endlich frei fühlen zu recherchieren; die 3. und 4. Generation danach hat ohnehin eine größere emotionale Distanz, was solch eine Recherche erleichtert. Und die Recherche ist einfacher geworden - Archive haben sich zugänglicher gemacht.

Das gestiegene Interesse hat aber vor allem mit der Entwicklung der Geschichtsforschung zu tun: Die hat nämlich seit den 90er Jahren den Blick von den Spitzen des NS-Systems immer mehr in Richtung der "kleinen" Täter und Täterinnen gewendet, sie beschäftigt sich also mit den gewöhnlichen Deutschen, den Wehrmachtssoldaten, den Polizisten, den Verwaltungsangestellten. Den Anfang machten die Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" und die Bücher von Christopher R. Browning oder Daniel Goldhagen (s.u. Buchtipps).

Wie man suchen kann: ein Beispiel

Welche verschlungenen Wege man für eine Recherche gehen muss, welche Widrigkeiten es gibt, welche Überraschungen auch, erzählt beispielhaft die chrismon-Geschichte "Finde Haika!". In diesem Text fragt sich die Autorin, wieso ihr Opa eine Zwangsarbeiterin aus der Ukraine im Haushalt hatte, was der Opa selbst eigentlich so getrieben hat in der NS-Zeit, was an der erzählten Familiengeschichte stimmt und was nicht – und was aus der ukrainischen Haika geworden ist.

Vorsicht vor falschen Erwartungen

1. "Das geht schnell." – Nein, das ist selten. Eine Recherche zur eigenen Familie in der NS-Zeit dauert fast immer länger als zwei Monate. Man sollte mit mindestens einem Jahr rechnen. Man wartet manchmal Monate, bis ein Archiv antwortet.

2. "Am Ende weiß ich alles." – Eher nicht. Meist weiß man am Ende immer noch nicht, wie der Verwandte dachte – wie er zum Nationalsozialismus stand, ob sich seine Einstellung über die Jahre geändert hat.

3. "Am Ende weiß ich wieder nichts." – Auch wenn man am Ende meist nicht weiß, was ein Verwandter konkret getan hat, kann man es sich – mit einem Trick – ausmalen. Der Trick heißt: lesen, lesen, lesen. Und zwar Bücher zum Umfeld. Zum Beispiel Fachliteratur über einzelne Dienststellen des NS-Apparates, über einzelne Feldzüge, über Verbrechen an bestimmten Bevölkerungsgruppen usw. So kann man das Dunkelfeld erhellen und die Verwandten darin verorten.

Erster Schritt: das Familienwissen ausschöpfen

Fahnden nach Geschichten sowie Dokumenten jeder Art, nach Aktenordnern, Briefen, Ausweisen, Fotos!

Es gibt fast immer mehr an Erzählungen, Wissen und Dokumenten, als man denkt oder als die Angehörigen zunächst erinnern. Dazu jeden, wirklich jeden der letzten noch lebenden alten Verwandten befragen, auch die, mit denen man noch nie Kontakt hatte oder nicht mehr. Fast immer haben sie wertvolle Hinweise beizusteuern. Auch wenn das Geschichten sind, die sie selbst nur gehört haben von den Eltern. Alte Menschen freuen sich über Besuch, Telefonate, Interesse. Aber auch gleichaltrige Vettern und Cousinen könnten im (ererbten) Besitz von Dokumenten, Briefen und Fotos sein!

Unbedingt bei allen mehrfach nachfragen! Nach Geschichten, aber auch nach Dokumenten, Fotos … Die erste Antwort ist oft: "Nee, ich hab da nichts." Bis jemand anfängt, doch noch mal nachzuschauen in Schränken und Schachteln, in Ordnern und Briefumschlägen, das kann dauern, denn viele Menschen scheuen vor einer Beschäftigung mit Vergangenem zurück, vor dem Wühlen in Kisten und Kästen sowieso. Denn wollte man die nicht schon lang mal aufgeräumt haben?

Häufig werden sie dann doch fündig. Denn solch offizielle Dokumente wie Personalausweis ("Kennkarte"), Wehrpass, "Ariernachweis", Entlassungsschein, Rentenanträge werfen die meisten Leute nicht einfach so weg.

Manchmal findet sich sogar ein "Ariernachweis" (offiziell: Ahnentafel) – so was hat man gern aufbewahrt, weil darin der Stammbaum dokumentiert ist. "Ariernachweise" wurden übrigens nicht zentral in einer Behörde gesammelt, sondern verblieben immer im persönlichen Besitz. Vorsicht: Die Angaben nicht unkritisch übernehmen. Denn einen "Ariernachweis" über mehrere Generationen zurück zu erstellen, war für viele Betroffene und Pfarr- und Standesämter, die nach Geburts-, Heirats-, Sterbeurkunden gefragt wurden, überaus lästig. Nicht selten sind die Angaben ungenau recherchiert, schlichtweg falsch oder auch bewusst gefälscht, um die "arische" Abstammung nachweisen zu können.

Interessant sind aber auch alle Dokumente, die erst einmal gar nichts mit dem NS-Staat zu tun haben: Lebensläufe für Bewerbungen, Zeugnisse, Ausbildungspapiere, Führerschein, Papiere mit alten Adressen drauf ... Denn, Hand aufs Herz, wer weiß schon, was der Opa tatsächlich gearbeitet hat und wo? Man weiß gerade noch: Der war Bauingenieur. Oder Fahrer. Aber wo und bei wem?

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Antwort auf von Michael Schimanski (nicht registriert)

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Entnazifizierung der Kirchen.
Jeder der einen anderen Blickwinkel hat, läuft Gefahr, mit der Keule in die braune Ecke gejagt zu werden. Diese Art der Bevormundung ist auch bei denen üblich, die sich ach so menschlich geben. Leider hat das 70jährige mediale Trommelfeuer nicht verhindert, dass das braune Gesindel wieder die Köpfe hebt. Insofern unterscheidet uns nichts von den nationalen Auferstehungswünschen unserer Nachbarn. Aber um alles in der Welt, muss ich den unbedingt wissen, was denn mein Großvater, der ansonsten vorbildliche Familienmensch, in größter körperlicher und psychischer Not anno 1942 getan haben könnte? Kein Wunder, dass mit dieser Forderung denn auch der letzte Jugendliche nur noch den Kopf schütteln kann. Die Ausländer sowieso. Außerdem, glaubt denn im Ernst jemand daran, dass mit diesen Bemühungen auch nur ein potentieller jetziger neuer Brauner von seinen Absichten abzubringen ist? Da drängt sich mir doch eine ganz andere Variante als möglicher Grund für die besessene Aufklärungswut auf. Auch mit der Erbsünde wurde permanent den Christen zum Zweck des Machterhaltes ein schlechtes Gewissen eingejagt. Wie sich doch das Bild gleicht. 70 Jahre nach dem Grauen wird nun auch den Enkeln, als den genetischen Erben ihrer Großväter, der Stigma-Schuldkomplex aufgeladen. Dabei liegt die Schuld nicht unerheblich auch bei den Kirchen. Sie waren in ihrer Jahrhunderte alten Judenwut die psychologischen Steigbügelhaltern. Sie waren auch die Einzigen, die dank ihrer bis zum Schluss weitgehend erhaltenen eigenen Organisationsstrukturen (im Osten besser als im Westen, Kirchenbücher, Personenmeldungen, interner Informationsabgleich) genauestens über alles informiert waren. Jetzt brüsten sie sich mit den wenigen, die damals auch ohne die Zustimmung der eigenen Bischöfe opponiert haben. Beide Kirchen haben sich bereits 1932 mit den Konkordatsverträgen kaufen lassen. Bis heute! Wenn jemand die Nazivergangenheit aufzuarbeiten hat, dann sind es die Kirchen. Sie hätten damals entnazifiziert werden müssen. Das Gewissen der Kirchen ist ungetrübt. Als Alibi muss bis heute eine halbherzige Erklärung herhalten. In der "Stuttgarter Erklärung v. 19.10.45" lautet das erste offizielle Schuldbekenntnis der ev. Kirche so: "Wohl haben wir lange Jahre hindurch im Namen Jesu Christi gegen den Geist gekämpft, der im nationalsozialistischen Gewaltregiment seinen furchtbaren Ausdruck gefunden hat, aber wir klagen uns an, dass wir nicht mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben". Selbst in diesem Satz wird noch der Eindruck erweckt, als ob man im Geheimen dagegen war. Ich habe doch so gebetet, aber es hat leider nichts genutzt. Ich war wohl nicht gläubig genug! Mehr nicht Tatsächlich hat man sich kaufen lassen, ist mit dem Tross gezogen und hat, als alles zu spät war, nicht mal den Mut gehabt, gemeinsam auf alle Kanzeln zu gehen!.

Vielleicht macht es viele verstehend, wie leicht eine Gesellschaft in die Fänge einer totalitären Bewegung geraten kann.

Mein Großvater war als Arzt und Mitglied der NSDAP, aktiv in die Verfolgung jüdischer Ärzte verstrickt. Er hat aus Eigennutz und aktiven, eigenem Antrieb das schrittweise Berufsverbot für jüdische Ärzte betrieben und hat sich hochgearbeitet, indem er am Anfang seiner Karriere jüdische Ärzte hat persönlich festgenommen und Verhören zugeführt. Später war er als Leitender aktiv an der Planung und Durchführung beteiligt.

Trotz seiner nachweisbar aus Überzeugung geführten Aktivität gegen die Betroffenen Opfer, wurde er nach dem Krieg zu einer deutlich zu geringen Haftstrafen verurteilt.

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Sex und Hitler verkaufen sich unverändert gut in unserer Zeit, in der vor lauter Wohlstand und umfassender Sicherheit in allen Lebenslagen meist gähnende Langeweile herrscht. Und gegen diese Langeweile hilft der einen oder dem anderen die Erforschung des Lebens der Ahnen im Dritten Reich. Wer war Täter, wer war Opfer, wer hat was in der eigenen Familie verschwiegen oder schöngeredet? Das ist doch unsäglich spannend, spannender als jeder Krimi!

Nun las ich in diesem Artikel allerdings Folgendes: "Viele Nachforschende sehen sich verpflichtet, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen, sie wollen sich der Verantwortung stellen". Welcher Verantwortung denn, der "persönlichen Verantwortung" etwa, dass die Grossmutter sehr aktiv im BDM mitmachte und es sich gut gehen liess während des Krieges, statt in den Widerstand zu gehen und Juden und andere vom Regime verfolgte Menschen zu retten? Oder der "Verantwortung" bestätigt zu bekommen, dass die eigene Familie mit dem noch immer präsenten Bild des "hässlichen Deutschen" nichts gemeinsam hat? NEIN, die Nachgeborenen trifft keine Schuld an den Untaten der Eltern und Grosseltern, und sie müssen sich somit auch nicht einer Verantwortung für die begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit stellen! Doch jede und jeder muss sich stets bewusst sein, dass grundsätzlich der Mensch - nicht nur die Deutschen als Volk(!) - das unheilvolle Potenzial in sich trägt, unter gewissen Voraussetzungen vom zivilisierten Menschen zum gnadenlosen Raubtier zu mutieren. Um das zu erkennen, bedarf es allerdings keiner Ahnenforschung, eher einem ausführlichen Studium der Menschheitsgeschichte.

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Ich bin die Enkelin eines verurteilten SSlers aus Auschwitz-Birkenau & eines frühen NSDAP-Mitglieds. Die Entscheidungen und Erfahrungen meiner Großväter wurden nicht thematisiert und/oder in den Familien reflektiert.
Daher war dieser Artikel, auf den ich durch die SZ-Beilage stoß, für mich sehr hilfreich meinem Bauchgefühl faktisch nachzugehen und erste Hinweise über meine Großväter in den Jahren zwischen 1925 und 1955 zu finden. Dafür bin ich bis heute sehr dankbar!

Leider ist es auch heute noch sehr aufwendig an Unterlagen und detailliertere Informationen aus, vor und nach den Kriegsjahren zu kommen. Bzw. überhaupt zu wissen, wo und wie der Anfang in der Recherche zu machen ist, wenn man von zu Hause keine Anhaltspunkte erhalten kann.
Daher meinen herzlichen Dank an die Autorin, die sich diesem Thema angenommen hat.

Hallo, zumindest gibt es dazu nichts aus unserer kleinen Redaktion. Die "Anleitung zur Recherche" basierte ja auf meiner privaten Recherche zu meinem Opa. Übertragbar ist aber auf jeden Fall: Mit allen noch lebenden Verwandten reden, auch den noch so entfernten. Fotos sichten und zu solchen Besuchen mitnehmen. Landkarten sowieso.
Herzliche Grüße
Christine Holch / Redaktion chrismon

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der da 1933 ausgehandelt wurde. Nach der "Hilerglocke in Herxheim jetzt auch ein Fund in der Gedächtniskirche in Speyer. Rheinpfalz-Überschrift: "Gottes Werke und des Kaisers Beiträge". In Anlehnung an das Konkordat wäre dann auch richtig "Gottes Werte und Hitlers Segen" als tägliche Ewigkeitsrente.

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Immer wieder wird von Seiten der EKD begründet, warum sie sich in die Politik einmischt. Dabei sollte eigentlich die Geschichte Warnung genug sein. Mir ist keine Abstimmung dazu bekannt. Wunschvermutungen sind keine Legitimation. Ohne sie auch keine Verantwortung. Inhaltlich total ohne Kontrolle. Mitreden aber nichts zu sagen haben. Hat in der Geschichte die Religion eine menschliche Politik gemacht? Es war eine Ausnahme und selten eine Absicht. Dagegen ist die gesamte Kirchengeschichte vorrangig davon geprägt, dass man den Glauben mit Politik vermischt hat. Man kann sogar soweit denken, dass Glaube sogar ohne Politik nicht mal möglich war oder sein könnte. Zumindest die vielen Varianten durch Macht (Herscherglaube, Zwangstaufen), Verführungsglaube (Mission und Geschenke) und Herkunftsglaube (ev. oder kath.), Gemeinschaftsglaube
oder durch sonstige Abhängigkeiten. Ein Glaube aus purer Freiwilligkeit ist nicht selbstverständlich und häufig erst seit kurzer Zeit möglich. Die Politik kann dagegen ohne einen Gottesglauben bestehen. Die Bedeutung des Glaubens misst sich an seiner (teilweise auch finanziellen) Abhängigkeit von seinen Fürsprechern. Der Wert des Glaubens ist individuell abhängig von Emotionen. Sinn, Hoffnung, Schicksal, Sorgen,  Ängste, Tod, Leben, Schwächen, Zukunft, Angehörige. Für alles, was mit Naturwissenschaften nicht begreifbar ist. Banal: Atheismus und Unglaube messen alles nach der Zahl. Ein Glaube kann und will auf den Geist nicht verzichten