Foto: Johannes Minkus
Nie wieder nur zuschauen
Ruanda, vom Völkermord gezeichnet, erlebt einen Aufbruch – moralisch, wirtschaftlich, und nach und nach heilen die Wunden der Vergangenheit. Ein hoffnungsvolles Beispiel aus Afrika
Thomas Meyer/Ostkreuz
17.10.2015

Meine ruandische Freundin Anysie ist eine lebenszugewandte Frau. Wenn wir uns sehen, lachen wir viel. Ich bewundere ihre Tatkraft und ihr soziales Engagement. Sie ist fast ein bisschen Teil unserer ­Familie geworden.

Jedes Jahr am 21. April geht es ihr nicht gut. Es ist der Tag, an dem sich ihr Leben verändert hat. Alle ihre Geschwister und ihre Eltern wurden im April 1994 von „Interahamwe“ mit ­Macheten umgebracht. „Interahamwe“ nennen die Ruander die Hutu-Milizen, die von der Regierung gegen die Volksgruppe der Tutsi aufgehetzt worden waren. Nur durch einen Sprung aus dem Fens­ter hat Anysie überlebt. Viele Wochen lang hat sie sich in ­Bananenhainen und im Gebüsch, aber auch in Häusern hilfsbereiter Menschen versteckt und, wie sie sagt, Schlimmes erlebt. Erst als die Ruandische Patriotische Front, die das Land bis heute regiert, die Regierung vertrieb, war sie in Sicherheit.

Gewalt ist immer eine Niederlage

Bis heute sind die Vorgänge von 1994, bei denen innerhalb von 100 Tagen 800 000 Menschen mit Macheten umgebracht wurden, mit einer Schuld der Weltgemeinschaft verbunden, die noch lange nicht aufgearbeitet ist. Warum hat niemand geholfen? Die Blauhelmtruppen der Vereinten Nationen waren im Land. Sie standen daneben, als die Menschen massenhaft umgebracht wurden. Ihr Auftrag erlaubte nur den Waffengebrauch zur Selbstverteidigung. Aber verteidigt werden mussten andere. Der kanadische General Roméo Dallaire, der das Kommando über die UN-Truppen hatte, sandte verzweifelt Telegramme nach New York, um von der UN die Erlaubnis zu bekommen, die Menschen mit Waffen zu schützen.

###autor###Er bekam keine Antwort. Die Truppen wurden stattdessen abgezogen. Dallaire blieb gegen die Anweisungen mit einem kleinen Kontingent zurück. In der Überzeugung, eine Mitschuld am Genozid in Ruanda zu tragen, versuchte er später zwei Mal, sich das Leben zu nehmen.

Gewalt ist immer eine Niederlage. Waffen können nie gesegnet werden. Und zur Lösung von Konflikten taugen Waffen auch ganz bestimmt nicht. Aber zum Schutz von unmittelbar be­drohten Menschen, so wie wir ihn in einem funktionierenden Staat von der Polizei erwarten dürfen, dazu können Waffen unverzichtbar sein. Ich habe bei meinen Besuchen in Ruanda so viele Geschichten aus dem Munde von Menschen gehört, die bis heute vom Völkermord gezeichnet sind, dass ich mir gelobt habe, nicht zu schweigen, wenn Menschen in ähnlichen Situationen sind.

Ruanda ist ein Land im Aufbruch

Für uns steht beim Völkermord in Ruanda die Schuld der Weltgemeinschaft im Zentrum, für die ruandischen Kirchen das eigene Versagen in den Tagen des Blutbads. Viele Täter waren Christen. Viele Menschen wurden in Kirchen umgebracht. Hier hatten sie in großer Zahl Schutz gesucht. Am Ende wurden die Kirchen zur Falle. Nicht wenige Pfarrerinnen und Pfarrer kolla­borierten mit den Tätern. Ich vergesse nie, wie Anysie auf ein großes gerahmtes Foto deutete, das in ihrem Büro hing. Es war ein langer Zug von Amtsträgern im Talar darauf zu sehen. Sie zeigte auf eine Pfarrerin. Und sagte: „Die ist nach Burundi geflohen. Weil sie bei den ‚Interahamwe‘ dabei war.“

Es hat Schuldbekenntnisse der Kirchen gegeben. Aber die Aufarbeitung der Schuld dauert fort. Auch von Deutschland wollen die ruandischen Kirchen dafür lernen. Im Februar 2014 haben wir gemeinsam eine Konferenz in Ruanda veranstaltet, bei der – ausgehend von der Theologie Dietrich Bonhoeffers – der Umgang der deutschen Kirchen mit dem Versagen im Nationalsozialismus und die späteren Schuldbekenntnisse ins Gespräch mit dem Kontext Ruandas gebracht wurden. Der ruandische Theologe Pascal Bataringaya, der in Deutschland über Bonhoeffers Friedensethik und ihre Bedeutung für Ruanda promoviert hat und Gastgeber der Konferenz war, ist inzwischen zum neuen Präsidenten der Presbyterianischen Kirche von Ruanda gewählt worden. Im ­Februar 2016 werden wir eine ruandische „Dietrich-Bonhoeffer-Forschungsstelle für Öffentliche Theologie“ in Kigali aus der Taufe heben, die die Kirchen darin unterstützen soll, eine starke Stimme in der Zivilgesellschaft zu sein.

Der ruandische Alptraum hat tiefe Spuren hinterlassen. Und die Wunden sind nicht verheilt. Und dennoch ist Ruanda ein Land im Aufbruch. Das Wirtschaftswachstum steigt seit einigen Jahren. Durch einen wachsenden Dienstleistungssektor, eine dynamische Industrie und eine moderne und produktive Landwirtschaft will die Regierung das ehrgeizige Ziel erreichen, Ruanda bis zum Jahr 2020 von einem der ärmsten Länder der Erde zu einem Land der mittleren Einkommensgruppe zu machen.

Hilfe zur Selbsthilfe kann funktionieren

Das „Land der tausend Hügel“ wird irgendwann wegen seiner ­einmaligen landschaftlichen Schönheit von der Touristik­branche entdeckt werden. Noch ist es ein Geheimtipp. Aber vor allem die Menschen sind es, die einen mit ihrer Offenheit und Freund­lichkeit für sich einnehmen. Ich kenne das Land seit zehn Jahren. Nie habe ich mich dort unsicher gefühlt. Wer übers Land und durch die Dörfer fährt, sieht überall Kinder – fröhliche ­Kinder. Was bevölkerungspolitisch ein Riesenproblem darstellt, versprüht Aufbruchsgeist.
Immer wieder staune ich, wie ein Land nach dem unvorstellbaren Grauen, das es erlebt hat, so neu anfangen kann. Die Menschen wollen eine bessere Zukunft und nehmen dankbar die Unterstützung von außen an. Ich habe einige Projekte des Lutherischen Weltbundes in Ruanda besucht, für die „Brot für die Welt“ auch in Deutschland gesammelt hat. Etwa das große Reisanbauprojekt in Kajevuba in der Provinz Kibungo. 1982 ist dort eine unterirdische Quelle aktiv geworden. Irgendwann kam einer der Bauern auf die Idee, Reis anzupflanzen. Es funktionierte. 1998 entsteht eine Genossenschaft, 425 Menschen machen mit. Der ­Lutherische Weltbund hilft mit einer Maschine, die den Reis säubert, und durch technische Begleitung bei der Erweiterung des Reisanbaugebietes. Inzwischen gibt es Reisanbau auf 80 Hektar, 700 Mitglieder arbeiten in zehn Assoziationen. Nach dem eigenen Verbrauch bleibt so viel Reis übrig, dass man ihn an eine Grundschule verkaufen und Geld für den Erwerb von Vieh, für Fahrräder und andere Dinge des täglichen Bedarfs erwirtschaften kann.

Pauschale Kritik an Entwicklungshilfe ist falsch. Hilfe zur Selbsthilfe kann funktionieren. Etwa, wenn 65 Waisenkinder in der evangelischen Gemeinde von Byumba im Norden Ruandas in der Mittagspause der Schule eine warme Mahlzeit bekommen. Und immer mehr Kinder bekommen nun das Schulgeld, um die höhere Schule zu besuchen. Einer hat es jetzt schon bis zur Uni­versität geschafft. 30 Berufsschüler haben ein Stipendium von „Brot für die Welt“ bekommen. Mehrere Kühe geben seit vor­letztem Jahr die Milch fürs Mittagessen. Jetzt wird zusammen mit „Brot für die Welt“ eine Schweinezucht aufgebaut. Meine Freundin Anysie, die für die presbyterianische Kirche in Ruanda arbeitet, hat die Unterstützung aus Deutschland initiiert. Es geht voran – an so vielen Stellen im Land!

Bei einem Gottesdienst der Weltkirchenratskonferenz 2004 wurden Worte aus dem Buch des Propheten Hesekiel verlesen. ­Sie handeln von einem großen Gräberfeld und von neuem Leben. „So spricht Gott der Herr“ – heißt es da – „zu diesen Gebeinen: Siehe, ich will Odem in euch bringen, dass ihr wieder lebendig werdet. Ich will euch Sehnen geben und lasse Fleisch über euch ­wachsen und überziehe euch mit Haut und will euch Odem ­geben, dass ihr wieder lebendig werdet; und ihr sollt erfahren, dass ich der Herr bin“ (Hesekiel 37,5 f).

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.
Permalink

Betr.: Genozid in Ruanda 1994
Ruanda – ein Land im Aufbruch – Kirche und Religion Okt. 2015 Heinrich Bedford-Strohm

Wir sind ein protest. Missions-Ehepaar. Mein Mann (Franzose) und ich (Deutsche) lebten mit 15 Waisen in Butare, Ruanda als am 6. April 1994 der Massenmord begann. Ich habe später einen Erlebnis (Überlebens) Bericht geschrieben, der nie veröffentlich wurde. Wir lebten 2 Monate mit unseren 15 Waisen in dem Städtchen und wurden bis zu unserer Evakuierung wunderbar von Gott durch getragen.

Wir haben viel erlebt, viel gesehen und ich bin sicher, Herr Bedford-Strohm wird sich dafür interessieren. Auf Wunsch sende ich Ihnen einige Seiten unseres Berichtes zu. Wir leben jetzt in Perpignan /Südfrankreich und würden uns freuen, von Ihnen zu hören. Freundl. Grüsse Frau Ilse Houdusse

Liebe Frau Houdusse,

 

schicken Sie die Seiten doch sehr gerne an leserbriefe @ chrismon . de [ohne Leerzeichen].

 

Wir sind gespannt und verbleiben mit freundlichen Grüße
Manon Priebe