"Sie fehlt morgens, mittags, abends", sagt die Zeugin vor Gericht. Der Frau gegenüber sitzt der Angeklagte, der gestanden hat, ihre Tochter missbraucht und umgebracht zu haben. Die Frau erläutert im Zeugenstand, was es heißt, sein Kind auf diese Weise zu verlieren. Auf dem Rasen liege kein Hula-Hoop-Reifen mehr, erzählt sie, und niemand gebe auf die Frage, was aufs Schulbrot soll, immer dieselbe Antwort: "Mettwurst." Für Augenblicke wird ihr Schmerz erahnbar.
Burkhard Weitz
"Wer tut so etwas?", fragen die Geschwister des ermordeten Mädchens. Auch die Eltern sind ratlos, was den Mörder zu seiner Tat getrieben haben mag. Es ist, als habe eine dämonische Macht vom Täter Besitz ergriffen: das Böse. Und als wäre die Tat nicht genug, wirft nun das Böse seinen Schatten auf den Familienalltag. Panik erfasst die Eltern, wenn sich die Kinder geringfügig verspäten. Die Geschwister der Toten leiden unter Konzentrationsstörungen und haben Angst im Dunkeln.
Über wen sich der Schatten des Bösen legt, für den reichen die Begriffe der Alltagssprache nicht mehr aus, um seiner Erfahrung Ausdruck zu geben. Auch Fachbegriffe aus der Psychologie helfen ihm nicht unbedingt weiter. Es geht um mehr, als dass jemand gegen ein Gesetz oder die Moral verstoßen hat. Das Böse wird als Realität erlebt. Das Schicksal verdichtet sich zu einer persönlichen Macht, die ihm übel mitspielt. Unmöglich erscheint der Glaube an einen liebenden Gott, das Gebet zu einer beschützenden Macht. Zwar hat ein Mensch die böse Tat begangen, nicht Gott oder das Schicksal. Aber Gott hat sie zugelassen. Ist Gott indirekt für das Böse verantwortlich?
Für Christen ist Gott nicht nur eine beschützende Macht, sondern auch eine, die sich zuweilen abwendet und fernbleibt, wo Hilfe von oben bitter nötig wäre. Manche Psalmen der Bibel klagen Gott an, weil er untätig dem Elend zusieht. Der 13. Psalm sagt: "Herr, wie lange willst du mich so ganz vergessen? Wie lange verbirgst du dein Antlitz vor mir? Wie lange soll ich sorgen in meiner Seele und mich in meinem Herzen täglich ängstigen? Wie lange soll sich mein Feind über mich erheben?" An einer Stelle geht die Bibel sogar noch weiter: "Ich bin der Herr, der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis, der ich Frieden gebe und schaffe Unheil", heißt es bei Jesaja 45, 7. Der Gott der Bibel erschafft eine Welt, in der sich Katastrophen ereignen, die großes Leid über die Menschen bringen.
Christlicher Glaube vertraut auf die Güte und Liebe Gottes
Nach christlichem Verständnis schenkt Gott dem Menschen Freiheit. Der Mensch kann sich Gottes Willen widersetzen. Gott hindert den Menschen selbst dann nicht, von seiner Freiheit Gebrauch zu machen, wenn sein Tun von Grund auf böse ist. Der Reformator Martin Luther litt darunter, dass Gott das Böse zulässt. Für ihn stand diese Erfahrung in einem schier unerträglichen Widerspruch zu seinem Glauben an einen gütigen Gott. Deshalb unterschied Luther zwischen dem verborgenen Gesicht Gottes, das er als zornig empfand, und dem freundlichen Gesicht des gnädigen Gottes. Wenn er, Luther, verzweifelt sei, fliehe er vor dem abgewandten Gesicht Gottes zu dessen zugewandtem Gesicht, zu Christus.
Viele Christen machen die Erfahrung der Gottesferne. Zu ihrem Glauben gehört auch, dass sie Gott anklagen. Doch christlicher Glaube wäre kein Glaube, wenn er nicht auf die Güte und Liebe Gottes vertrauen würde. Christen glauben auch, dass das Böse nie so übermächtig werden kann, dass es die Oberhand behält. Dass derjenige bei Gott ist, dem das Leben geraubt wird. Und dass die Hinterbliebenen bei noch so großer Trostlosigkeit eine Chance haben, sich wieder mit dem Leben auszusöhnen, eine neue Perspektive zu finden. Die Mutter des ermordeten Mädchens scheint das zu spüren. "Ich möchte das zum Abschluss bringen", begründet sie ihr mutiges Auftreten vor Gericht.
Auflösen lässt sich diese Widersprüchlichkeit Gottes nicht, so wenig wie die Widersprüchlichkeit des Lebens. Dass Gott wirklich nur Gutes will, ist keine wissenschaftlich-rationale Aussage, sondern eine Glaubensaussage. Der christliche Glaube versucht, die Widersprüchlichkeit des Lebens auszuhalten, ohne dem Zynismus oder der Gleichgültigkeit zu verfallen. Das gelingt aber nur, wenn der Glaube die Erfahrung des Bösen nicht ausklammert. Es mag einen zur Verzweiflung treiben, dass Gott das Böse zulässt. Für den Glaubenden ist jedoch entscheidend, dass Gott an Wohl und Wehe der Menschen Anteil nimmt. Wer an diesen Gott glaubt, bejaht das Leben – obwohl oder gerade weil er weiß, wie mächtig das Böse sein kann.
Das Böse und der Zweifel an Gott
Ein Kommentar zum Thema unter http://mamus.eu/Gott_und_Krieg.html
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