Mit dem selbstgebauten Güllewagen für sein Kettcar spielt Marvin Landwirt und wässert die Straße vor dem Hof seiner Eltern
Mit dem selbstgebauten Güllewagen für sein Kettcar spielt Marvin Landwirt und wässert die Straße vor dem Hof seiner Eltern
Insa Catherine Hagemann
Marvin hat einen Plan
Er will den Bauernhof seines Vaters übernehmen. Nur: Das wird nicht passieren. Marvin ist 15 Jahre alt und blind. Er hat NCL, Kinderdemenz – eine seltene Erbkrankheit, an der er sterben wird
Tim Wegner
Foto: Stefan Finger
05.11.2014

Hier muss es irgendwo sein. Mit kurzen, schlurfenden Schritten, den Körper leicht nach vorn gebeugt, geht Marvin über den rauen Betonboden. Er zeigt mit dem Finger nach unten: „Was ist da?“ – „Ein Datum ist in den Boden geritzt, 20. 7. 88. Der Tag, an dem der Beton gegossen wurde.“ Die Antwort hat er erwartet. „Hat mein Papa gebaut. Mit Opa. Da drunter ist die Gülle.“ Marvin Kohlwey, 15 Jahre alt, 1,82 groß, kurze, dunkle Haare, lässt die Arme schlackern, legt den Kopf schräg und lächelt. Er hat so wenig Sehkraft, dass Augenärzte sie nicht mehr messen können. Auf dem linken Auge kann er hell und dunkel unterscheiden, vielleicht sieht er noch einen Schatten, wenn er auf einen Baum zugeht. Aber auf dem Bauernhof in Düdinghausen, Niedersachsen, braucht er seine Augen nicht. Hier kennt er jeden Quadratzentimeter.

Sehschwäche und Blindheit sind die ersten Symptome der Neuronalen Ceroid-Lipofuszinose, kurz NCL, einer Erbkrankheit. In Deutschland leiden etwa 400 Menschen daran, Kinder, ­Jugendliche, junge Erwachsene. Durch einen Gendefekt lagert sich wachsartiges Ceroid-Lipofuszin im Gewebe der Kranken ab. Dadurch sterben Nervenzellen, nach und nach. Weil die Augenzellen besonders empfindlich sind, sind sie als Erste betroffen. Mit der Zeit können sich NCL-Kinder schlechter bewegen und erleiden epileptische Anfälle. NCL zählt zu den Hirnabbau-Krankheiten, manche sagen Kinderdemenz dazu. Es gibt keine Heilung.

Marvin wurde am 16. Februar 1999 geboren. Er war ein ruhiges Kind. Freundlich, interessiert, eher schüchtern. Am liebsten spielte er auf dem Hof seiner Eltern. Alles deutete darauf hin, dass er genauso gesund sein würde wie seine Schwester Kristin, dreieinhalb Jahre älter als er. Bis die Augen Probleme machten. In der ersten Klasse bekam er eine Brille, 2005 war das. Aber das Sehen wurde immer schlechter. Marvins Vater Bernd Kohlwey weiß noch, dass Marvin einmal sagte: „Guck mal, Papa, ein Kaninchen!“ Es war eine Katze. Das musste er, der Junge vom Land, doch wissen! Und seine Mutter Sabine Kohlwey erinnert sich, dass er morgens im Badezimmer weinte. Und schrie: „Ich will nie mehr zur Schule!“ Er, der Junge, der nur ein paar Monate zuvor die Schultüte stolz in die Kamera gehalten hatte! Das Foto hängt heute an der Wand neben den anderen Familienbildern. Im Wohnzimmer, wo Marvin abends manchmal KiKA guckt, den Kinderkanal. Oder Disney Channel. Seine Lieblingssendung momentan: „Kim Possible“.

„Wir dachten damals, dass er vielleicht ein Jahr mehr im Kindergarten gebraucht hätte“, sagt Sabine Kohlwey. Der Junge wiederholte die erste Klasse, aber seine Leistungen wurden kaum besser. Marvin wirkte frustriert. Besonders Mathe fiel ihm schwer. Die ständigen Aufforderungen der Lehrer, sich wieder und wieder an Auf­gaben zu versuchen, machten ihn aggressiv. Das isolierte ihn in der Klasse. „Wenn er einen Freund gefunden hatte, war er ihn bald wieder los, weil er ihn so vereinnahmte, dass der andere keine Luft mehr bekam“, sagt Marvins Mutter.

Im Sommer sitzt Marvin gerne mit seinem Opa draußen
Heute kommen nur noch selten Kinder auf den Hof, die mit Marvin spielen wollen. Vor ein paar Jahren war das anders. Wenn Besuch kam, holte er sein Kettcar raus. Für ihn ist das sein Trecker, sein Traktor. Und die Anhänger, die sein Vater ihm gebaut hat. Am liebsten mag er den kleinen Güllewagen, in den er Wasser füllen kann. Und den Bagger. Das war was für die Kinder aus ­ der Nachbarschaft! Aber seit einem Jahr fällt Marvin auch das Sprechen schwer. Seine Stimme klingt verwaschen, oft verschluckt er Buchstaben oder Silben. Wenn er merkt, dass jemand ihn nicht versteht, redet er hektischer. „Langsam, Marvin, langsam!“, sagen Eltern und Schwester dann. Auch sie verstehen nicht mehr alles auf Anhieb. Die Verständigungsprobleme scheinen seine Spiel­kameraden abzuschrecken, sie bleiben zunehmend weg.

An diesem sonnigen Sonntag hat Marvin keine Lust zum Spielen. Er will lieber den Hof zeigen, den seine Eltern im Nebenerwerb führen. Sabine Kohlwey ar­beitet als Industriekauffrau, ihr Mann Bernd ist Schlosser. Nach Feierabend versorgt Bernd Kohlwey mit Hilfe seiner Eltern, die im Nachbarhaus leben, 200 Mastschweine. Auf 19 Hektar Land baut er Mais, Roggen und Gerste an. Daraus wird Futter für die Tiere. „Bis vor kurzem hatten wir auch Sauen zur Zucht, aber die haben wir verkauft“, sagt Bernd Kohlwey, ein schlanker, sportlicher Mann mit dunklen Haaren, die an der Schläfe ergraut sind. Er pflückt Heidelbeeren und Weintrauben, sie wachsen an der Südseite der backsteinernen Scheune. Sein Sohn Marvin steht neben ihm. Er betrachtet die Weintrauben in seiner Hand, der Satz wirkt wie ein Stichwort auf ihn. „Opa kann das nicht mehr“, sagt er, nimmt eine Traube zwischen Daumen und Zeigefinger und bietet sie an.

Die Diagnose kam kurz vor Weihnachten

In Marvins Grundschulzeit durchlebte die Familie eine schwierige Zeit. Mal weckten Augentropfen die Hoffnung, der Sehverlust könne sich aufhalten lassen. Dann half das Bildschirmlese­gerät zu Hause dabei, dass es mit dem Lesen besser wurde. Für die Schule bekam Marvin ein Tafellesegerät. Aber nicht immer ­hatten die Lehrer die Geduld, dem Jungen bei der richtigen Einstellung zu helfen. Dann war Marvin wieder frustriert, er schimpfte, wischte seine Sachen wütend vom Tisch. Und bald fraß die Zeit die Fortschritte, die Marvin gemacht hatte, wieder auf.

Im August 2008 untersuchten Ärzte an der Medizinischen Hochschule Hannover den Jungen. Ein Oberarzt für Neuro­pädiatrie äußerte erstmals den Verdacht, Marvin könnte an NCL leiden; seine Eltern willigten ein, Blut- und Gewebeproben genetisch untersuchen zu lassen. Zu Hause in Düdinghausen lasen sie im Internet nach, was NCL bedeutet. „Wir haben beschlossen, dass unser Kind das nicht hat“, sagt Sabine Kohlwey. Sie spricht schnell, klar und mitunter so resolut, als könne sie Krankheiten wegreden.

Marvin wartet zusammen mit seiner Mutter auf die nächste Untersuchung. Einmal im Jahr muss er ins Klinikum Hamburg
In Hannover gingen Marvins Proben zeitweilig verloren, bis Dezember gab es kein Ergebnis. Wird dann schon nicht so schlimm sein, dachten die Eltern, die beide über sich sagen, ein schlechtes Gedächtnis für Zahlen zu haben. Aber das Datum, für das der Arzt sie nach Hannover bestellte, vergessen sie nie: 16. Dezember 2008, Marvin war neun Jahre und zehn Monate alt. Er fuhr nicht mit, Sabine und Bernd Kohlwey dachten, dass es nichts Gutes heißen würde, wenn sie persönlich vorsprechen sollten. Der Arzt trug das Ergebnis der Untersuchungen ruhig und offen vor. Acht Tage vor Heiligabend wurde offiziell alles anders. Ihr Sohn hatte NCL.

Eine Fahrt von Hannover nach Düdinghausen dauert etwas mehr als eine Stunde. Nach der Diagnose verbrachten die Eltern sie schweigend. „Da bricht eine Welt zusammen“, sagt Bernd Kohlwey. Seine Frau Sabine saß neben ihm im Auto und dachte: „So eine Scheißkrankheit, aber nun wissen wir endlich, woran wir sind.“ Ein schlimmer Gedanke hämmerte auf beide ein, sie trauten sich nicht, ihn auszusprechen: Es gibt NCL-Kinder, die mit zehn Jahren sterben, davon hatten sie im Internet gelesen. Später lernten sie, dass die Lebenserwartung bei Marvins NCL-Typus höher ist. CLN3 nennen ihn die Mediziner, es ist die klassische, juvenile Form. Sie ist am häufigsten verbreitet und bricht oft erst im Schulalter aus. Bis dahin sind die Kinder gesund. Zu Hause erzählten die Eltern ihrem Sohn, dass in seinem Kopf etwas nicht stimmt und er deshalb so schlecht sehen kann. Marvin nahm das so hin, er hat nie mit seiner Diagnose gehadert, bis heute nicht. Die Eltern leiteten den Schulwechsel in die Wege, Marvin würde nun täglich nach Hannover ins Landesbildungszentrum für ­Blinde fahren müssen, eine Strecke von 80 Kilometern.

Die Wahrscheinlichkeit, überhaupt an NCL zu erkranken, liegt bei eins zu 30 000. Das Risiko, dass bei einem Kind im frühen Schulalter – wie bei Marvin – die juvenile Form von NCL ausbricht, ist noch geringer: eins zu 200 000. So unwahrscheinlich! Was soll man von so einem Schicksal halten? „Wir können den Kopf deshalb ja nicht in den Sand stecken“, sagt Marvins Vater, „es geht darum, dass es Marvin möglichst gut hat und dass wir ­Eltern auch noch ein Leben haben.“ Bernd Kohlwey ist kein Mensch, der Einsichten anzweifelt oder mit ihnen hadert. Wenn er sich einer Sache sicher ist, bildet er seine „Ich sage“-Sätze: „Ich sage, wenn jemand eine ganz seltene Krankheit hat, hat er noch mal ein schlechteres Los, weil die Pharmaindustrie kein Interesse hat, Geld in die Forschung zu stecken.“

Hadern mit dem Schicksal

Und seine Frau? Manchmal hadert sie mit dieser fiesen Laune der Natur. Dass NCL sich nur vererbt, wenn beide Elternteile ein defektes Gen tragen. „Wie wahrscheinlich war es, einen Mann zu treffen, der die gleiche kaputte Erbinformation hat, und mit ihm ein krankes Kind zu bekommen?“ Aber das ist nur ein seltener Gedankenblitz, der zieht vorbei wie ein Gewitter. Im Alltag ist kaum Zeit für schwere Gedanken, da zählen die vielen kleinen Ziele, aktuell: Marvin soll möglichst frei sein von den epileptischen Anfällen, die ihn so ­quälen. Acht Wochen ist es nun schon gutgegangen. Dafür verzichten sie auf Medikamente, die den sprachlichen Verfall verlangsamen, aber Epilepsie auslösen könnten.

Marvins Eltern sagen, die epileptischen Anfälle sind im der­zeitigen Stadium der Krankheit das Schlimmste. Sie beginnen mit einem Krampf. Zwei, manchmal drei Minuten lang wird Marvins Körper ganz starr. Dann ist noch Zeit, dem Jungen ein Medikament zu geben, um den Anfall abzumildern. Meistens geht es spätabends oder in den frühen Morgenstunden los, zwischen zehn und elf oder vier und sechs Uhr. Wenn es Marvin nicht gutgeht, überträgt eine Kamera Bilder aus seinem Zimmer, damit die Eltern noch reagieren können.

Sie haben mit dem Handy einen nächtlichen Anfall gefilmt. Das Video zeigen sie Menschen, die mit Marvin zu tun haben. Zur Vorbereitung, falls sie mit ihm allein sind, wenn es losgeht. In der Aufnahme ist Marvin auf seinem Bett zu sehen. Er strampelt, schlägt um sich und stößt spitze, panische Schreie aus. Sein Vater Bernd sitzt neben ihm, er versucht, sein Kind in den Arm zu nehmen. Aber er schafft es nicht. Häufiger haben die Eltern nach einem Anfall blaue Flecken. Marvin will sie nicht schlagen, aber er hat das nicht unter Kontrolle und weiß hinterher auch nichts mehr davon. 20 bis 30 Minuten schreit Marvin, ehe er sich beruhigt. Es gibt Wochen mit regelrechten Anfallserien. Dann muss er ins Krankenhaus, damit seine Medikation neu eingestellt wird. Nach einer Epilepsieserie wird meistens etwas schlechter. Beim letzten Mal war es das Sprechen. Um die Veränderungen zu dokumentieren, fährt Marvins Mutter einmal im Jahr zur NCL-Sprechstunde ins Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Sollte es einmal ein ­Medikament gegen die NCL-Symptome geben, ist es wichtig, dass die Mediziner für klinische Studien auf eine Kontrollgruppe zurückgreifen können, die noch keine Behandlungsmöglichkeiten hatte. So helfen sie vielleicht einmal Kindern, die heute noch nichts von ihrem Schicksal ahnen.

Manchmal gibt es Hotdogs bei den Kohlweys, Kristin hilft ihrem Bruder bei der Zubereitung
Abschiedsstimmung liegt über dem Kaffeetisch, an dem Marvin sitzt, gegenüber von seiner Schwester Kristin. In drei Tagen wird sie für ein halbes Jahr nach Irland fliegen, als Au-pair. Vielleicht hat sie danach einen ­Studienplatz für Medizin. Sie will Ärztin werden –  auch wegen Marvin. Auf ihren Bruder hat Kristin Kohlwey, 19 Jahre alt, ­schmales Gesicht, lange Haare, frisches, durchdringendes Lachen, schon einen diagnostischen Blick. Sie sieht, dass Marvin müde ist, in sich gekehrt. „Wollen wir Heidelbeershake machen, Marvin? Ihr habt doch Beeren gepflückt!“ – „Ja, aber da muss auch Eis mit rein“, sagt der kleine Bruder. –  „Aber nur, wenn du danach mit mir Fahrrad fährst!“ – „Dann kein Eis!“ Alle am Tisch lachen, Marvin strahlt. Er hat schon immer gern gelacht, und wenn er eine Pointe setzt, ist er mittendrin, glücklich.

Marvin denkt nicht mehr abstrakt, hat aber noch Träume

Genau wie während der meisten Fahrten auf dem Tandem, das sich die Familie mit Hilfe der Krankenkasse vor drei Jahren gekauft hat. Auch wenn gar kein Eis in den Shake zum Kaffee­trinken gekommen ist – fahren muss Marvin heute trotzdem noch mit seiner Schwester. Es gibt keine Heilung für NCL-Patien­ten, wohl aber die Erkenntnis, dass Bewegung ihnen guttut. Der Tacho des Tandems hat schon über 2200 Kilometer gemessen. Als die Geschwister zurück sind, erzählt Kristin, dass Marvin unterwegs wissen wollte, ob sie an seinem Geburtstag aus Irland zurück sein wird. Nein, hat sie ihm geantwortet. „Kristin ist wieder da, wenn wir Mais fahren“, erzählt Marvin zehn Minuten später. Dabei kommt der Mais doch viel früher vom Feld, im Herbst, wenn die Schwester gerade erst abgereist sein wird.

Unter längeren Zeiträumen kann Marvin sich nichts mehr vorstellen. Er lebt für den Moment oder in der Vergangenheit. Vom Urlaub in Ägypten, wo er in einer Wasserrutsche stecken­geblieben war, was ihn und seine Familie sehr erheiterte, erzählt er, als sei er gestern zurückgekommen. Die Reise ist über fünf Jahre her. Genau wie die Gegenwart liebt Marvin das Konkrete, Abstraktes kann er nicht mehr verstehen. Für Geräusche ist er sensibel. „Das ist Gerd“, sagt er schon, als sein Vater das Brummen am Himmel noch gar nicht richtig hört. Gerd ist einer der Taxifahrer, die ihn zur Schule fahren. Er fliegt gelegentlich mit einem Ultraleichtflugzeug über den Hof.

Marvins Eltern wissen, wie das Leben ihres Sohnes weiter­gehen wird. Sie sehen es ja bei den anderen Kindern aus der NCL-­Gruppe, der sie sich angeschlossen haben. Die Sprache wird noch mehr verwaschen, bis Marvin nur noch unverständliche Laute von sich geben wird. Er wird einen Rollstuhl brauchen, weil er nicht mehr gehen kann. Und die Demenz wird zunehmen. Sie werden umbauen müssen, noch ist Marvins Zimmer im ersten Stock. Neulich hatten die Kohlweys jemanden da, der sie be­raten hat. Es fielen Begriffe wie „behindertengerechte Dusche“. „Aber das ist zu abstrakt, er bezieht das nie auf sich“, sagt Sabine Kohlwey. Trecker fahren, das ist konkret, nicht abstrakt. Deshalb macht es Marvin traurig, weil er nie den echten Trecker wird fahren können; er weiß ja, dass er blind ist. Aber er hat schon eine Lösung. „Er stellt sich das so vor, dass sein Papa den Trecker auch dann noch fährt, wenn er den Hof mal übernommen hat“, sagt seine Mutter. Dafür hat Marvin sein Konfirmationsgeld vom vergangenen Mai zurückgelegt, als Startkapital. Dass sein Traum, Landwirt zu werdem, nie in Erfüllung gehen wird, sagen ihm die Eltern nicht. „Warum sollen wir ihm die Illusion nehmen?“

Irgendwann wird die Krankheit auch die Nervenzellen ab­töten, die ein Mensch zum Schlucken braucht. Marvin wird eine Sonde brauchen, über die er ernährt wird. Das ist der Punkt, an dem die Behandlung lebensverlängernde Züge bekommt. Manche Eltern wollen das, andere nicht. Mit Sonde werden NCL-Patienten 30 Jahre alt, manchmal auch etwas älter. In den Gedanken von Marvins Eltern ist für diese Zeit noch kein Platz. Das ist zu weit weg, und sie können es ohnehin nicht beeinflussen. „Als Marvin in der ersten Klasse war, habe ich oft gedacht: ‚Wenn dieses Kind mal aus der Schule kommt, schicken wir ihn ein Jahr auf eine Farm nach Kanada, damit er richtig selbstständig wird.‘ Heute denke ich: ‚Hauptsache, wir sind gesund und kommen durchs Leben‘“, sagt Sabine Kohlwey.

Sie selbst meistert ihr Leben auch deshalb, weil sie einen Tag im Monat rausfährt, irgendwohin, wo sie Ruhe hat, in ein Schwimmbad zum Beispiel. Das hat die Familie so besprochen. Marvins Vater hat die Landwirtschaft, er entspannt draußen auf dem Feld oder wenn er sich um die Sauen kümmert. Einmal im Jahr fliegt er mit Freunden nach Mallorca, zum Feiern, aber das war schon vor Marvins Krankheit so. Das Ehepaar hat sich vorgenommen, ihren Freundeskreis und die restliche Familie nicht zu vernachlässigen. Wenn jemand Geburtstag feiert, gehen sie hin. Dann passen die Großeltern oder Kristin auf Marvin auf. Notfalls gehen Vater oder Mutter allein. Aber ein Kohlwey kommt, immer! Und die Leute kommen zu den Kohlweys. Zwei Kränze stehen im Garten, geschmückt mit Porzellan. Einen Kranz brachten die Freunde, als die standesamtliche Trauung sich zum 20. Mal jährte. Und am Tag der kirchlichen Hochzeit kamen sie wieder und stellten den zweiten auf. Bei Kohlweys wird öfter mal gefeiert.

Im Klassenzimmer bekommt Marvin Aufgaben. Danach geht er mit seiner Mitschülerin Marit zum Essen
Am Montagmorgen steht Marvin um kurz nach halb sieben mit seiner Mutter auf dem Hof und wartet aufs Taxi. Es ist noch dunkel. Nachmittags, wenn er zurückkommt, ist es schon nicht mehr richtig hell. Seine Eltern fragen ihn manchmal, ob er in den Wintermonaten nicht lieber im Internat des Landesblindenzentrums bleiben möchte. Aber dann schüttelt Marvin nur mit dem Kopf. Als das Taxi da ist, streicht Sabine Kohlwey ihrem Sohn zum Abschied über den Kopf. Marvin nimmt ihre Hand und schmatzt sie ab. Solange es irgendwie geht, soll Marvin hier auf dem Ihlberg in Düdinghausen bleiben, das wünschen sich die Eltern. Weil Marvin es so will.

Im Taxi sitzt Marvin hinten neben Rosi, seiner Begleiterin. Sie soll Gerd, den Fahrer, warnen, falls Marvin einen Anfall bekommt. Und sie hat seine Tabletten. Marvin eröffnet sofort das Gespräch. „Bis du gestern bei uns geflogen, Gerd?“, will er wissen. Nein, das war ein Girocopter, sagt Gerd, ein Hubschrauber für zwei Leute. Danach konzentriert sich Marvin ­ auf die Strecke, er hat jede Kurve im Blut und weiß, warum das ­Auto langsamer wird. „Jetzt sind wir in Husum, Gerd“, sagt er, als das Taxi ein Ortsschild passiert. Im Radio singt der Rapper Mark Forster: „Es gibt nichts, was mich hält, au revoir / Vergesst, wer ich war, vergesst meinen Namen / Es wird nie mehr sein, wie es war / Ich bin weg, au revoir.“

###autor###Um kurz nach acht Uhr kommt Marvin in der Schule an, er geht erst mal in den Kunstraum, hier kann er warten, bis es klingelt. Er könnte auch hoch zum freien Singen, aber das will er nicht. Nach und nach kommen immer mehr Leute an. Auch Torsten, ein zupackender Typ mit kurzen, grauen Haaren, silbernem Ohrring und Holzfällerhemd. Er begleitet Marvin durch den Schulalltag, ist sein Einzelfallhelfer. Das Gespräch kreist um die ganzen Lebkuchen und Weihnachtsmänner, die schon seit September in den Supermarktregalen liegen. Das nehme einem doch die Lust auf Weihnachten, wenn man das wochenlang sehe. Marvin assoziiert sich über einzelne Worte in die Unterhaltung. Weihnachten? „Da ist Jesus geboren.“ Er spricht so leise, dass ihn niemand bemerkt. „Und Ostern ist er aufer­standen.“ Am anderen Ende des Raumes meint Torsten, dieses Jahr werde es ohnehin schwierig mit der Weihnachtsstimmung. Er erzählt von seiner Tochter, sie ist sehr krank. „Manche haben leider nicht immer ein schönes Leben“, sagt Torsten, und alle im Raum werden still. Dann sagt Marvin: „Ich schon.“
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Liebes Chrismon-Team, liebe Familie von Marvin,

Marvins Schicksal und sein bedingungsloser Mut das Leben in Licht und Dunkel zu meistern - hat mich so bewegt, dass ich Ihre Geschichte als "Mutmacher" für uns Trauernde auf die Gedenkseite meines verstorbenen Sohnes Robin im 5. Robins-Herzenstürchen-Adventskalender aufgenommen habe (www.gedenkseiten.de/robin-bosch)

Ich glaube - das ich auch in Ihrem Sinne gehandelt habe - damit noch viel mehr Menschen von dieser seltenen Krankheit erfahren und vielleicht gerade in der Adventszeit in der Stille zum Nachdenken kommen - über das Leben und das Sterben und über die Schicksale unserer Nächsten...

Drücken Sie mir Ihren lieben Marvin ganz herzlich.
Alles Liebe und Gottes reichen Segen,
in tiefer Verbundenheit,
Ihre Christiane

Der Herr ist mein Licht und mein Heil:
Vor wem sollte ich mich fürchten? Ps 27,1

Gedanken zum Tag:
Die Erfahrung von Dunkelheit und Angst gehört zur Lebensgeschichte von Menschen dazu. Davon sind auch gläubige Menschen nicht ausgenommen. Die andere Erfahrung von gläubigen Menschen ist aber die, dass Gott auch in Dunkelheit und Angst da ist - als Licht und Heil, wie es hier heißt, als guter Hirte oder als feste Burg, wie es in anderen Psalmen formuliert wird.

Roland Herrig, Pfarrer