Gleich am Eingang warten auf den Besucher nackte Tatsachen: Ein australischer Ureinwohner, ein ägyptischer Hofbeamter, afrikanische Statuen und eine Wachsfigur des kanadischen Künstlers Evan Penny, allesamt mit entblößtem Geschlecht ohne Vorhaut. Nur der „betende Knabe“ aus dem antiken Griechenland steht da mit winzigem, unbeschnittenem Penis. Die Entfernung der Vorhaut war in der Antike weit verbreitet. Auch heute ist ein Drittel der Männer weltweit beschnitten.
###mehr-extern### Die Ausstellung „Haut ab! Haltungen zur rituellen Beschneidung“ im Jüdischen Museum Berlin ist ein Echo auf eine kontroverse Debatte 2012. Damals hatten Kölner Richter die Beschneidung aus religiösen Gründen als „Körperverletzung“ gewertet und große Aufregung verursacht. Denn für Juden ist die Beschneidung das wichtigste religiöse Gebot. Auch Muslime praktizieren das Ritual, auch wenn es im Koran nicht vorgeschrieben ist.
Einfach mal die Perspektive wechseln
Das Jüdische Museum konzentriert sich auf die Beschneidung in den drei monotheistischen Religionen und empfiehlt, einfach mal die Perspektiven zu wechseln. Das tut richtig gut.
Auf einem Tora-Vorhang von 1774 ist die Opferung Isaaks dargestellt. Sein Vater Abraham schwingt schon das Schwert. Wie in Tora und Bibel nachzulesen ist, wird es Abraham in letzter Minute erspart, seinen Sohn zu opfern. Gott wollte nur seinen Gehorsam testen. Auf dem Vorhang ist noch eine zweite Szene abgebildet: Isaak wird beschnitten. Der Bund mit Gott wird im Judentum durch die Zirkumzision besiegelt und nicht durch Menschenopfer, wie es in anderen Kulturen üblich war. Die Beseitigung der Vorhaut ist so gesehen ein zivilisatorischer Fortschritt.
Viele Menschen messen den Fortschritt heute an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und an Menschen- und Kinderrechten. Sie sehen in der religiösen Beschneidung einen Rückschritt. Juden und Muslime mussten sich vor zwei Jahren anhören, sie würden einem „archaischen Ritual“ anhängen und ihre Kinder misshandeln.
Wenn es um die Bedeutung von religiösen Geboten geht, um das, was Menschen heilig ist, helfen Objekte nur bedingt weiter. Im Zentrum der Schau steht deshalb ein Raum, der ganz in weiß gehalten ist, der Farbe des Heiligen. An den Wänden ist das Beschneidungsgebot aus der Genesis zu lesen, das den Bund zwischen Gott und dem Volk Israel begründet.
Die konkrete Praxis veranschaulichen Beschneidungsbestecke aus verschiedenen Jahrhunderten, eine Beschneidungsbank, historische und heutige Festtagsgewänder für beschnittene Säuglinge und ältere Jungen. Eine Fotoserie aus den 70er Jahren zeigt drei türkische Jungs unter einer großen Bettdecke. Die Decke ist übersät mit Geldscheinen. Auch die gehören bei Muslimen zum Ritual dazu.
Ein Weinkrug von 470 v. Chr. macht deutlich, dass das vorhandene oder fehlende Stück Haut auch damals schon zur kulturellen Abwertung diente: Ein muskulöser Herakles mit zartem, unbeschnittenem Penis kämpft gegen drei kahle, fette ägyptische Priester mit großem, beschnittenem Geschlecht.
Am interessantesten ist der Raum zum Christentum. Wie hältst du’s mit der Vorhaut?, das war auch im Verhältnis von Juden und Christen die entscheidende Frage. Jesus war Jude – und beschnitten. Im ersten Jahrhundert haben die Christen das Beschneidungsritual für sich abgeschafft. Bis ins 20. Jahrhundert aber blieben sie dem Brauch „geradezu obsessiv“ verhaftet, schreibt der Münsteraner Theologe Thomas Lentes im sehr lesenswerten Ausstellungskatalog. Bis in die 1960er Jahre feierten Katholiken am 1. Januar das „Fest der Beschneidung des Herrn“, die Vorhaut Christi wurde verehrt, und auch in der Sakramententheologie spielte die Beschneidung eine wichtige Rolle.
Mittelalterliche Darstellungen zeigen, wie Abgrenzung und Nähe Jahrhunderte lang nebeneinander existierten - eine Vielfalt, die man sich heute manchmal wünscht. Peter Paul Rubens malte die Beschneidung Christi 1605 als Erlösungshandlung und Jesus selig lächelnd. Auf dem Gemälde eines Nürnberger Zeitgenossen schaut das Kind hilflos drein und ist alten, bärtigen Männern ausgeliefert. Das NS-Hetzblatt „Der Stürmer“ übernahm die Szene 500 Jahre später und titelte „Ritualmord – Die Juden sind unser Unglück“.
Das Ritual hat auch komische Seiten. Darauf weisen Spielfilm-Ausschnitte hin. Da will zum Beispiel ein junger Mann dringend in eine coole Gangsta-Clique aufgenommen werden – und muss dafür erst mal beim Rabbi vorsprechen und seine Vorhaut opfern. Bis in die Comic-Serie „South Park“ hat es die Beschneidung geschafft.
Einfach mal die Perspektive wechseln?
Einfach mal die Perspektive wechseln? Richtig. Aber wie wäre es denn mal zur Abwechlsung mit der Perspektive des Kindes, das ohne etwas zu verstehen, an einer besonders verletztlichen Stelle mit einem Skalpell verletzt wird und die mit der Eichel verklebte Vorhaut von derselben gerissen bekommt?
Dass hier auf Kosten der Steuerzahler eine verhamlosende und mit religiösen Überbau verklärende Ausstellung finanziert wird und die meisten Medien dafür nicht mehr übrig haben, als den Pressetext abzudrucken und darauf hinzuweisen, wie komisch die Beschneidung doch sei, ist schon traurig. Empathie gegenüber den Kindern? Fehlanzeige. Ein derartiger Eingriff in die grundgesetzlich besonders geschützte sexuelle Selbstbestimmung? Geschenkt. Da verkauft uns Frau Keller die medizinisch nicht indizierte Körperverletzung an Säuglingen doch lieber als einen "so gesehen [...] zivilisatorische[n] Fortschritt". Ich bin mir sicher, dass wir all das in einigen Jahren ebensowenig nachvollziehen können, wie, dass wir unsere Kinder einmal (auch gutmeinend) geschlagen haben und dass sich zumindest manche derer, die dieses Ritual entweder unreflektiert oder aus einer falsch verstanden Toleranz heraus rechtfertigen, still und heimlich dafür schämen, dass sie sich den Kinder- und Menschenrechten derart entgegen gestellt haben.
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Zivilisatorischer Fortschritt
" Die Beseitigung der Vorhaut ist so gesehen ein zivilisatorischer Fortschritt."
Ich denke, es müsste eher heißen: Die Beseitigung der Vorhaut war(!) so gesehen ein zivilisatorischer Fortschritt.
Ein zivilisatorischer Fortschritt nach heutigen Maßstäben wäre der Ersatz des verletzenden Rituals durch ein symbolisches, die bereits in vielen jüdischen Familien praktizierte Brit Shalom. Auch diese Familien geben stolz ihr Judentum an ihre Kinder weiter!
Ich stelle mir hier vor: Wie wäre es, wenn statt der Vorhautamputation an kleinen Jungs (aus zweifelsohne liebevollen Motiven) die vergleichbare Klitorisvorhautamputation an Mädchen (aus zweifelsohne genau so liebevoller Motivation) und deren lange religiöse (z. B. nach der Schafiitischen Rechtsschule im Islam) und kulturhistorische Tradition im Mittelpunkt so einer Ausstellung stehen würde, inklusive Darbietung seiner "komischen Seiten"???
Das tut mir weh, egal ob Junge oder Mädchen.
Ich boykottiere diese Veranstaltung.
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Masslose Enttäuschung
Nach all dem, was Kindern in christlichen Institutionen angetan wurde (vieles ist erst in den letzten Jahren herausgekommen), wäre es nun allererste Pflicht für die christlichen Kirchen gewesen sich endlich einmal schützend vor die Kinder zu stellen. Das Gegenteil ist der Fall!
Ich bin maßlos enttäuscht von meiner Kirche.
Ich bitte darum, wie mein Vorposter es bereits empfahl, sich in die Perspektive des Kindes bzw. Babys zu versetzen.
Aufschlussreich ist auch, dass im Rahmen der Ausstellung die Frage der Betäubung (Emla ist keine angemessene Betäubung) völlig unter den Tisch fällt.
Ich frage mich immer mehr, warum ich nicht konsequenterweise aus der Kirche austrete.
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Tendenziös
Mit dieser Schau wurde eine wichtige Chance verspielt. Anstatt objektiv und neutral alle Aspekte zu zeigen, wird die unbequeme, schmerzhafte, schädliche und manchmal tödliche Seite geflissentlich verschwiegen.
Wo ist der Hinweis auf die wichtigen Funktionen der männlichen Vorhaut? Warum wird nicht auch der - wissenschaftlich belegbare - Schaden der Beschneidung erwähnt? Warum kein Hinweis darauf, dass die Vorhautamputation bei einem Neugeborenen ohne Betäubung stattfinden muss und das Kind dabei größte Schmerzen erleidet? Warum gibt es keine Erwähnung all der Männer, die unter den Folgen dieses Eingriffes leiden und teilweise über Jahre hinweg mühsam ihre Vorhaut wieder herzustellen versuchen?
Anstatt anzuerkennen, welches Unrecht hiermit den Jungen angetan wird, werden die Menschen, die sich für die Rechte der Jungen einsetzen, reflexartig als Antisemiten beschimpft, das Stichwort "Ritualmord" darf natürlich nicht fehlen.
Männer wie ich, die unter ihrer als Verstümmelung empfundenen "Beschneidung" und ihren Folgen leiden, werden bewusst ignoriert und als bedauerlichen Einzelfälle und Hypochonder gebrandmarkt.
Warum war man hier nicht mutiger? Warum stellt man sich nicht der Realität und erkennt an, was man den Kindern und späteren Männern antut? Wieviele Jungen müssen noch leiden, bis dieses Ritual endlich von der Zivilisation abgelöst wird und Jungen dieselben Rechte bekommen, wie Mädchen? Wie lange werden Männer wie ich noch um Anerkennung kämpfen müssen?
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Haut ab
"Das tut richtig gut."
Erst kürzlich titelte Chrismon-Autorin Christine Holch: "Mann, tut das gut!"
Im Artikel heißt es "Männlichkeit kann man lernen". Na sicher. Der klassische Weg dahin: die Beschneidung. Tut richtig gut. Wer wüsste das besser als Frau?
Sarkasmus beiseite – in Sachen zivilisatorischer Fortschritt bleibt nur eines zu wünschen: das fundamentalistische Geisteshaltungen und Doppelmoral nicht länger die UNIVERSALEN Menschenrechte mithin das Recht kleiner Jungs auf körperliche Unversehrtheit untergraben.
Einfach mal die Perspektive zu wechseln. Menschlichkeit kann man lernen, Frau Keller und chrismon-Redakteurinnen.
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