Das Haus steht in einer Welt aus Rechtecken. Flachdach, eingeschossig, Reihenhausbauweise, beplanter Innenbereich, 70er-Jahre-Style. Jedes hat eine eigene Garagenauffahrt, seitlich stehen die Mülltonnen. Zu der Zeit, als ich hier aufwuchs, schamponierten die Familienväter samstags ihre Audis, Volkswagen und Opels stolz noch von Hand. Wenn man von oben draufschaut, sieht „die Siedlung“ wie eine Tupperdose aus, die Giebelhäuser drumherum bilden den Rand, das Meer der Flachdächer dazwischen den Boden. Nur vergingen lange Jahre, bis ich das erste Mal von oben draufschaute.
Dass am Ende der Straße ein Friedhof liegt, ist mir erst bewusst geworden, als ich längst nach Berlin gezogen war, um zu studieren. Als meine Besuche zu Hause zu Ausschnitten auf einem Zeitraffer wurden, von denen ein jeder mir klarer machte, dass nicht nur ich selbst immer älter wurde, sondern auch meine Eltern. Der Friedhof war jetzt nicht mehr nur ein Hügel, der danach schrie, mit dem Rutschauto abgefahren zu werden – sondern Ort für die Toten. Vor ein paar Jahren war jemand auf die Idee gekommen, die 70er-Jahre-Aussegnungshalle mit Licht anzustrahlen. Die Umrisse ergaben jetzt ein windschiefes M. M wie Menetekel. M wie Maus.
Herbst 2012. Ich bin wieder zu Hause. Ich habe mit meinen Eltern Wein getrunken und vor dem Kamin gegessen. Wir haben geredet und dabei in die Flammen geschaut. Wie immer ist gleich nach der Ankunft eine Last von mir abgefallen, von der ich nicht genau weiß, worin sie besteht. Wie immer ist eine neue hinzugekommen, die mir ebenfalls Rätsel aufgibt. Wie immer bin ich genervt und beglückt zugleich, dass der Handyempfang in der Siedlung so schlecht ist. Und wie immer liege ich nun unter diesem Bettzeug und lausche auf das vertraute Knacken des Hauses, als ob das Aluminium der großen Fenster im Wohnzimmer nachts Kniegelenke bekommt. Ich bin bald 30 und liege im Kinderzimmer. Nebenan schläft mein Kind.
Glücklich und dankbar, verwirrt und bewegt
Draußen ist es dunkel, wie es in Berlin niemals dunkel ist. Es schimmern die Umrisse des roten Ahorns, den ich kenne, seit er ein dürres Bäumchen war. Erinnerungen rasen durch mein Hirn, wie Collagen. Ich fühle mich glücklich und dankbar, vor allem aber verwirrt und bewegt. Die Entscheidung steht, das Haus ist verkauft. Es ist die letzte Nacht in meinem alten Zuhause.
Niemals zuvor waren Menschen über 65 so beweglich wie heute. Das geht aus einer Altersstudie des Instituts für Demoskopie Allensbach hervor, für die mehr als 4000 65- bis 85-Jährige ausführlich befragt worden sind, die Studie repräsentiert 15 Millionen Menschen. „Sehr eindrucksvoll ist das starke Unabhängigkeitsstreben dieser Generation“, sagt Renate Köcher, die Chefin des Instituts.
Ein Streben, das meine Eltern mit 70 dazu brachte, den efeuberankten Bungalow in Hamm in Westfalen, in dem meine Geschwister und ich laufen lernten, nach 40 Jahren zum Verkauf ins Internet zu stellen, um nach Berlin zu ziehen. Wahrscheinlich sind sie verrückt geworden. Das war mein erster Gedanke, als ich von dem Plan meiner Eltern erfuhr. Sie haben in Hamm viele Freunde, die meisten kennen sie seit Jahrzehnten. Sie feiern hier Partys, sie lieben die Spaziergänge durch die angrenzenden Felder, den Dauerlauf im Wald. Die Nachbarn stellen einander mit hübscher Regelmäßigkeit frische Blumen aus dem Garten oder selbst gemachte Marmelade vor die Tür. Wo in Berlin würden sie so etwas je wieder finden? Und was ist mit dem Sprichwort vom alten Baum, den man nicht ungestraft verpflanzt? Zunächst machte mich das Projekt meiner Eltern ratlos. Vielleicht so ratlos, wie sie es gewesen sein müssen, als ich gerade den Führerschein hatte und mir nichts Schöneres vorstellen konnte, als nachts mit ihrem Auto durchs Ruhrgebiet zu fahren.
Ich hoffte, ebenso inbrünstig wie machtlos, auf ein wenig Vernunft in ihrer großen Entscheidung. Dies auch deshalb, weil meine Eltern nicht etwa in die feudaleren Berliner Stadtteile wie Zehlendorf oder den Grunewald wollten, nein, sie hatten sich eine Wohnung in Berlin-Kreuzberg gekauft. Wo es heute zwar braver zugeht als zu Mauerzeiten, wo es aber mehr Clubs als Parkbänke gibt, mitunter Autos brennen und die Bevölkerung sich auf der Demo zum revolutionären Ersten Mai auch gern mal mit Pflastersteinchen beschmeißt. Was wollt ihr hier?, fragte ich. „Nun, die Antwort ist zweigeteilt“, sagte mein zu dialektischen Antworten neigender Vater, der ewige Pädagoge, „zum einen wollen wir in eurer Nähe sein, zum anderen wollen wir jetzt mitten hinein ins Leben.“
Auch meine beiden Geschwister leben in Berlin. Meine Eltern opfern die westfälische Provinz also für die Nähe von drei Kindern und fünf, bald sechs Enkelkindern. Früher verlief diese Bewegung andersherum: Die Kinder zogen zu den Eltern zurück, oftmals aus der Erwägung heraus, für die Eltern da sein zu können, wenn diese Hilfe brauchten. Wenn es ganz besonders zünftig zuging, fand sich im Garten der Eltern zufälligerweise noch dieser kleine Bauplatz. Wie ist das heute? Können wir davon ausgehen, dass künftig Heerscharen sogenannter Silver Ager hinter den Kinderwagen ihrer Kinder durch deutsche Großstädte traben? Ist das ein Trend?
„Bunter und älter“ werde Berlin, sagen die Demografen. Gemeint ist, dass künftig immer mehr alte Menschen und immer mehr Menschen aus dem Ausland unter der Berliner Bevölkerung sein werden; das entspricht in etwa dem gesamtdeutschen Trend. Aber im Gegenzug verlassen auch Menschen die Stadt. Und das sind bei den Älteren noch immer mehr als die, die zuziehen.
Meine Eltern liegen also nicht unbedingt im Trend, wohl aber gehören sie zur Avantgarde. Dieser Begriff stammt ursprünglich aus dem Sprachschatz des Militärs und bezeichnet den Truppenteil, der zuerst Feindberührung hat. Na prima: Die Chancen, dass die beiden sich eine blutige Nase holen, sind vergleichsweise groß. Beruhigt mich nicht unbedingt.
Ich habe mir eine Woche Zeit genommen, um mich von meinem alten Zuhause zu verabschieden. Ich bin mit dem Fahrrad den alten Schulweg durch die Felder abgefahren. Ich habe mich ins „Jonathan“ gesetzt, die erste Kneipe in meinem Leben, die ein netter Laden sein könnte, wäre da nicht die seltsame Tischdeko aus Vogelnestern und Windlichtern. Wie wird das erst zu Halloween hier sein? Frage ich mich. Bestimmt findet man vor lauter ausgehöhlten Kürbissen mit Duftkerzen in ihren leeren Gehirnen keinen Sitzplatz.
In den Neunzigern: Die Welt war groß und funkelte
Ich habe mich an die langen Tage in den Neunzigern erinnert, an denen ich vor dem Radio saß und WDR Eins Live hörte und Mixtapes für meine Freunde machte. Ich bin zum Freibad Süd gefahren und habe diesen Geruchscocktail aus Chlor, Frittierfett, Solero-Eis und Sonnencreme aus meiner Erinnerung hervorgekramt, ich verbinde ihn mit heißen Sommertagen zur Ferienzeit. Ich habe mir die Eckkneipe angeschaut, in der ich mich endlich getraut habe, meine erste richtige Freundin zu küssen, nach dem Schulfest war das. Die Welt war groß und funkelte.
Ich hatte nach dem Abitur Studienplätze für Medizin, für Psychologie, für Politikwissenschaft und habe mich, sozusagen als Kompromiss, zunächst für Philosophie entschieden. Ich fand es herrlich, mich nicht festlegen zu müssen. Ich hatte mich in das Bild von Jean-Paul Sartre und Albert Camus verliebt, ich stellte mir sie als rebellische Zweifler vor, die den lieben langen Tag rauchend und zweifelnd an den Ufern der Seine in Paris entlangspazierten. Ich wollte ein bisschen wie sie sein. Ich war es nie.
Bei meinen Streifzügen habe ich denn auch versucht, das Überhebliche abzustreifen, das man den Hauptstädtern nachsagt. Und ich habe festgestellt, dass dieser Ort, dieses Hamm – Heimat klingt zu sehr nach Schützenfest und deutscher Eiche – für mich immer wie die Luft um mich herum war, seltsam unhinterfragt, einfach nur da. Vielleicht so wie ein Kind in den ersten Lebensjahren die Anwesenheit seiner Eltern als selbstverständlich ansieht.
Erst jetzt, wo das Haus verkauft ist und in wenigen Wochen die neuen Eigentümer einziehen, eröffnet sich hinter jeder noch so banalen Bushaltestelle in unserem Dorf und hinter jeder noch so weggabeligen Weggabelung in der Stadt eine Geschichte, von der ich glaube, dass sie auch von mir handelt. Zumindest ein bisschen. Warum kommt das erst jetzt? Warum mit fast 30? Der US-amerikanische Psychologe Jeffrey Jensen Arnett hat für unsere Generation einen bisher unbekannten Lebensabschnitt erfunden: „Emerging Adulthood“, verlängerte Adoleszenz. Will sagen: Abnabelungsprozess ohne Ende. Postpubertäres Chromosomenbrausen und Sinnsuche, bis das Deckhaar langsam kahl wird. Wir sind Leute, die sich für das echte Leben immerzu zu jung fühlen, selbst dann noch, wenn wir selbst schon Verantwortung tragen.
Ich bin, zum ersten Mal seit ich 1982 in die Siedlung hineingeboren wurde, auf ein Dach gestiegen, um mir das Ganze mal von oben anzuschauen. Ich war sprachlos über die riesige Tupperdose, die sich da vor mir ausstreckte. Und ein wenig betroffen. Wie schade, dachte ich, dass das alles erst jetzt kommt. Ich bin immer gern nach Hause gefahren. Nur immer seltener.
Irgendwann in diesen Tagen scheint es mir, dass der Abschied von einem Zuhause noch schwieriger ist als der Abschied von einem Menschen. Klebriger. Eine Begegnung mit sich selbst. So ein Haus spricht ja verdammt wenig. Es ist mit Erinnerungen behaftet, klar. Diese Garage, in der ich die Straßenschilder aufhängte, die ich nachts am Wegesrand abgeschraubt hatte, das grün gekachelte Gästeklo neben der Haustür, diese Ecke im Wohnzimmer, wo der Weihnachtsbaum stand.
Am Ende ist und bleibt so ein Haus eine stumme Immobilie. Meine Eltern aber, das ist der Eindruck ihrer Kinder, leben auf. Sie sind sehr umtriebig, seit sie ihren Entschluss gefasst haben. Sie verticken ihre Möbel bei E-Bay, auch den blauen Ohrensessel, den wir alle liebhaben, den aber niemand von uns bei sich unterstellen will. „Weißt du, wir sehen es als Luxus an, dass wir uns jetzt radikal verkleinern“, flötet Muttern. Sie planen den Grundriss ihrer neuen Wohnung und streiten sich über die Einrichtung. Sie wollen in Berlin Yoga machen, suchen noch ein gutes Fitnessstudio und fragen mich, welche Sonderkonditionen die Berliner Verkehrsbetriebe Senioren einräumen. Und sie nehmen langsam Abschied von dem Leben, das sie 40 Jahre lang geführt haben. Leicht ist das nicht. Wenn die neuen Eigentümer kommen, zum Beispiel, um etwas auszumessen, muss meine Mutter weinen. Später überlässt sie solche Termine meinem Vater und geht in das nahe gelegene Wäldchen zum Dauerlauf. Sie hat 1969 ihren Beruf aufgegeben, als mein Bruder auf die Welt kam. Sie hat sich danach um die Familie gekümmert und meinem Vater den Rücken gestärkt. Dieses Haus ist ihre Burg, ein gutes Stück ihres Lebenswerks.
Der beständige Wandel - ein Heilmittel gegen den Alterungsprozess?
Dennoch war es gerade meine Mutter, die den Umzug in die Großstadt vorantrieb, „das wird uns noch mal ganz neue Impulse geben“, hat sie gesagt. Langsam verstehe ich, dass für meine Eltern der Zauber des Neuanfangs größer ist als der Schmerz, den sie auch empfinden. Was mich, als ihr Kind, nur verstört, ist die Zielgerichtetheit, mit der hier so ein ganzes Leben abgewickelt wird. Nicht gefühllos und kalt, aber mit einer berückenden Härte zu sich selbst.
Tatsächlich legen Forschungsergebnisse nahe, dass der beständige Wandel ein Heilmittel gegen den Alterungsprozess ist. Nicht nur ausgewogenes Essen, viel Bewegung und gute Gene, sondern gerade auch neue Aufgaben bremsen das Altern. Welch großen Stellenwert soziale Interaktion hat, zeigt eine Studie von Shari Bassuk und Kollegen von der Harvard School for Public Health in Boston: Bei 2800 Probanden über 65 war der messbare Abbau unter denjenigen am geringsten, die die meisten sozialen Kontakte und damit Abwechslung in ihrem Leben hatten.
Ich habe keine Ahnung, inwiefern meine Eltern irgendeine Agenda verfolgen oder nur aus dem Bauch entscheiden. Doch langsam freunde ich mich mit ihrem Projekt an. Trotzdem hören die Fragen nicht auf. Wie wird das sein, wenn wir im selben Kiez wohnen? Die erste Wohnung, die meine Eltern in Augenschein nehmen, liegt nur fünfzig Meter von dem Kreuzberger Hinterhof entfernt, in dem ich seit drei Jahren jeden Frühling Schattenrasen in rauen Mengen ausstreue, damit meine kleine Tochter von unserer Wohnung im Erdgeschoss in ein wenig Grün tapsen kann. Ich finde den Gedanken gruselig, meinem Vater künftig beim Brötchenholen zu begegnen, na, wie läuft’s denn so, guten Morgen, du meinst wohl guten Tag. Am Ende entscheiden meine Eltern sich dann doch für eine Wohnung, die etwas weiter entfernt ist. Ich finde das gut.
Damit hier kein Zweifel aufkommt: Ich mag meine Eltern. Wir können reden und uns begegnen. Aber es gibt Momente, da frage ich mich, warum wir nicht die Spur eines Generationenkonflikts haben, immerhin sind sie 40 Jahre älter. Manchmal wünschte ich, ich könnte mich mehr an ihnen reiben. Aus vollkommen eigennützigen Motiven. Ich stelle mir vor, dass es mit so einem Konflikt einfacher ist, den ganz eigenen Weg zu gehen, ihn zu finden. Vielleicht, so scheint es mir manchmal, ist die Abwesenheit eines solchen Konflikts auch der Grund, warum es den neuen Lebensabschnitt namens „Emerging Adulthood“ überhaupt gibt. Eltern und Kinder teilen heute tatsächlich viele Ansichten. Wir sind alle irgendwie gegen Atomkraft. Wir finden nicht, dass man zwangsläufig verheiratet sein muss, um ein Kind zu zeugen. Die Wirtschaftskrise macht uns gleichermaßen ratlos. Wir essen, wenn möglich, lieber Fleisch von glücklichen Kühen, dafür weniger. Und selbst bei Facebook sind wir inzwischen miteinander befreundet (meine Mutter schrieb mal an die Wall eines neuen Freundes: „Hiermit bestätige ich unsere Freundschaft“).
Noch so eine Frage, die der Umzug meiner Eltern aufwirft, ist die, wie sie altern werden. Es versteht sich von selbst, dass ich für sie da bin, so wie sie es für mich waren und sind. Und klar ist mir auch, dass das in Berlin, bei drei Kindern vor Ort, lustiger und einfacher ist als in Hamm in Westfalen. Dennoch wüsste ich gern, wie das sein wird, das wollen Menschen, das ist wie mit der Wettervorhersage. Aber so sehr ich auch nachdenke, ich weiß es nicht.
Was wohl daran liegt, dass mein Begriff von dem, was das Alter ausmacht, von gestern ist. Notwendigerweise. Wenn ich ans Alter denke, habe ich das Bild meiner Oma vor Augen. Die erfüllte wohl schon mit 70 alle Kriterien, die man für den Begriff Oma anlegt. Sie trug graue Locken, die sie sich beim Friseur ihres Vertrauens richten ließ. Ich habe sie kein einziges Mal in einer Hose gesehen, sie trug Omaröcke. Ich habe versucht, mit ihr über die Nazis zu sprechen, aber das ging nicht. Sie war eine Frau der Tat und kochte wunderbar Königsberger Klopse. Sie trug ein Gebiss, das nachts in einem Wasserglas schwamm. Ich liebte es, neben ihr in dem großen Eichenbett zu liegen, auf der Seite des Opas, der tot war. Sie trug ein weißes Nachthemd aus Leinen, und um sie herum duftete es herrlich nach Oma.
Die heute 70-Jährigen, die ich kenne, altern anders. Viele von ihnen kaufen noch immer bei Mango oder Zara ein, sie haben Mobiltelefone und iPads, sie fahren lieber nach Südafrika oder in den Jemen, als in Multifunktionstracht auf Spiekeroog durch den Regen zu traben. Deswegen werden sie von den Altersforschern auch die „jungen Alten“ genannt, die noch keine Pflegefälle sind. Jede zweite Frau zwischen 65 und 74, das hat die Allensbach-Studie herausgefunden, trägt heute regelmäßig Lippenstift auf, vor 30 Jahren war es nur rund jede vierte. Im Schnitt fühlen Menschen über 65 sich heute zehn Jahre jünger, als sie sind, sie achten auf ihren Körper und haben durchschnittlich 2200 Euro Nettohaushaltseinkommen zur Verfügung. Das macht sie natürlich auch für die Wirtschaft interessant.
Inzwischen sind meine Eltern schon mehr als sechs Monate in Berlin, und ich kann sagen, dass keine meiner Befürchtungen sich bewahrheitet hat. Sie haben gut zu tun mit ihrer Wohnung, mein Vater ist in den Eigentümervorstand gewählt worden, wir Kinder haben den beiden einen Tangokurs geschenkt. Bald kommen ihre Studienfreunde für ein paar Tage zu Besuch, das bereiten sie jetzt schon vor. Sie sitzen nicht ständig in den Küchen ihrer Kinder herum, ganz im Gegenteil: Sie sind viel unterwegs und könnten sich ruhig öfter melden.
Mein Vater hat einen wilden Irish Pub aufgetan, in dem er sich die Spiele seiner Lieblingsfußballmannschaft anschaut. Auf meine Frage, mit wem er dort so abhängt, sagte er nur mit schiefem Lächeln: „Och, nettes Publikum dort, vom Alter her könnten das meine Kinder sein.“
Dass wir sie brauchen, das brauchen unsere Eltern auch
Und einmal war der alte Mercedes meiner Eltern vor unserer Haustür von einem anderen Fahrzeug zugeparkt. Da durfte ich erleben, wie mein Vater zunächst energisch hupte und dem herbeieilenden Fahrer sodann durchs heruntergekurbelte Fenster zurief: „Wie lange sollen wir denn noch warten, mein lieber Herr Gesangsverein!“ In dem Moment wusste ich: Die schaffen das, die kommen auch hier klar, in dieser raunzigen Hauptstadt. Die sind auf dem besten Wege, Berliner zu werden.
Das Schönste an diesem Zustand ist wahrscheinlich, dass wir uns alle gegenseitig brauchen. Meine Eltern helfen uns mit den Kindern, wir nehmen sie mit auf Veranstaltungen oder geben Tipps für das Kulturprogramm. Oder sind einfach nur glücklich darüber, dass es wieder einen Ort gibt, an dem man Zuflucht finden kann, wenn man es – als Emerging-Adulthood- Kind – gerade mal wieder braucht. Und dass wir sie brauchen, das brauchen unsere Eltern auch.
Vor ein paar Tagen bin ich nachts aufgewacht. Schweißgebadet. Ich hatte von Hamm geträumt, von dem Friedhof oberhalb unserer Straße. In meinem Traum, der so absurd und durchsichtig war wie viele Träume, saßen meine Eltern in einem Wagen, der, von unsichtbarer Hand gesteuert, langsam, wie in Zeitlupe, den Weg zur Aussegnungshalle hinaufrollte. Meine Aufgabe war es, den Wagen zu stoppen, und ich fühlte meine Kräfte schwinden, weil der Wagen so schwer war und ich gegen seinen starken Motor nichts ausrichten konnte. Meine Eltern riefen mir zu, ich solle ihnen helfen, sie winkten hektisch und hatten rote Gesichter.
Ich bin aufgestanden und habe mich in die Küche gesetzt und Mineralwasser getrunken. Ich habe mir vor Augen gehalten, dass dieser Friedhof nach dem Umzug viel weiter entfernt ist als vorher, mindestens 460 Kilometer weiter. Das muss der verdammte Wagen erst einmal schaffen. Bis dahin, und dieser Gedanke spendete mir Trost, werden wir ihm noch jede Menge bunter Hindernisse in den Weg schmeißen, mit vereinten Kräften, meine Geschwister und ich und unsere kleinen Familien. Hier in der Hauptstadt, wo es lustig ist, aber auch laut und manchmal stinkt. Hier bei uns, im Leben.
Schöner Artikel, Chapeau
Ich lese die Chrismon eher zufällig als Beilage zur ZEIT, bin an diesem Artikel aber hängengeblieben und bin sehr angetan.
Ich bin ein paar Jährchen älter, aber das Gefühl, in der Provinz in seine eigene Kindheit zurückzublicken, ist perfekt beschrieben.
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Wir (70 und 65 Jahre alt)
Wir (70 und 65 Jahre alt) sind in der Aufbruchphase. Auch wir wollen "den Kindern hinterher". Der Autor hat treffend die emotionale Situation dargestellt aber auch die Chancen. Uns hat der Artikel Mut gemacht das Angestoßene auch zu realisieren. Danke für den Mutmacher!
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Heimal
Lieber Christoph,
das ist ein ganz liebenswerter Artikel, den Du Deinen Eltern und Deiner " Alten Heimat" gewidmet hast.
Wenn ich an Dich denke, habe ich das Bild des kleinen blonden Jungen vor mir, der sich mit Lehmklumpen vergnügte, die bei Straßenarbeiten abfielen...
Deine Mutter wird sich sicher auch darüber gefreut haben.
Im letzten Jahr haben wir unseren Pfarrer Mustroph in den Ruhestand entlassen.
Auch er ist in die Nähe seiner Kinder gezogen.
An die Ostsee.
Auch da eine mutige Entscheidung!
Aus diesem Anlass ist damals dieses Gedicht entstanden, was ich Dir und Deinen Eltern nicht vorenthalten möchte.
Ich wünsche Euch allen eine glückliche, gemeinsame Zeit!
Herzlichst,
Conny Löscher
Zuhause
Ein Wort nur, doch was will es sagen
Was heisst es ein Zuhause haben
Mein eignes Heim, ein Fleck auf Erden
Ist das der Traum vom Glücklichwerden
Ein leiser Gruß ein stummes Nicken
Sich freundlich in die Augen blicken
Wo Freunde noch zur Seite stehen
Und Wege mit uns gemeinsam geh’n
Geborgen fühlen in den Armen
Die auch durch schwere Zeiten tragen
Wo Freude steht an erster Stelle
Und schnell versiegt des Neider’s Quelle
Wo Ruh und Frieden uns umgeben
Und Freiheit unser höchstes Streben
Wo noch Gemeinsamkeit verbindet
Und Hoffnung unsre Herzen findet
Wo Menschen zueinander halten
Und anstandslos lässt Liebe walten
Wo Freundschaft man sich hat geschworen
Dort ist man sicher nie verloren
Wo Herz und Seele sich verbinden
Dort wird man ein Zuhause finden
Und wo der Glaube kein leeres Wort
Da schickt man auch niemals Freunde fort
Zu guter Letzt sei zu erwähnen
Dort wo wir miteinander leben
Und wo man eng zusammenrückt
Da Gott uns ein Zuhause gibt
© CoLö 2012
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Der jungen Familie hinterher
Ihre Reportage "Wir kommen zu Euch!" habe ich mit großer Freude gelesen. Auch wir, mein Mann und ich, gehören zu den Avantgardisten oder Nicht-mehr-Avantgardisten, die ihren Kindern hinterhergezogen sind. Relativ schnell entschlossen, als die junge Familie von Wiesbaden nach Travemünde ging, haben auch wir nach 40 Jahren unser Haus in Bonn und das Drumherum aufgegeben und eine schöne Wohnung an der Ostsee gekauft. Meine Mutter, aus Schleswig-Holstein stammend, brachten wir zu ihrer großen Freude aus dem Seniorenheim am Rhein in eines an der Trave. Auch die Kinder und Enkel freuten sich, die Geburt des Dritten erlebten wir hier mit. Jetzt aber muss die junge Familie aus beruflichen Gründen wieder umziehen, diesmal nach Kempten, weiter weg geht es nicht in Deutschland. Wir bleiben hier, mit meiner alten Mutter, die inzwischen 2 Schlaganfälle gehabt hat. Zum einen gefällt es uns hier sehr gut, zum anderen wollen wir nicht wieder unseren Alterssitz wechseln - auch diese Erfahrungen gibt es im Bekanntenkreis! Unsere nächsten Urlaubsreisen werden die kleinen Weltreisen nach Kempten sein.
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Pseudoproblematik
Dienstag, endlich Zeit, zu lesen:
zuerst einen Artikel über eine Buchneuerscheinung "Die Narzissmusfalle",
dann in der Reform Rundschau den Artikel "das Geld und die Seele" und schließlich
im chrismon die Titelgeschichte.
Na, das passt ja:
soviel Selbstverliebtheit und Gutmenschgeplaenkel lässt mich nicht kalt.
ich werd so sauer beim lesen, dass ich einfach unbedingt auch einen Kommentar schreiben möchte, natürlich gern in der Hoffnung, dass er gedruckt wird oder lieber noch, dass ich auch mal einen Artikel über "Heimat" veröffentlichen darf im chrismon. Und natürlich in der Hoffnung, dass auch der Autor Zeit findet, meinen Kommentar zu lesen und zu sehen, dass es vielleicht auch andere Perspektiven gibt zu dem Zuzug der "bestager" nach Berlin.
Da ich eher Mittsechzigjaehrige kenne, die nur unter 1000€ monatlich zur Verfuegung haben, gehe ich davon aus, dass seine Eltern auch eher zu den Leuten gehören, die mehr als die von ihm recherchierten 2200 netto monatlich ausgeben können. Es fällt nicht leicht, nicht zynisch zu werden, wenn ich lese, dass seine Mutter ganz traurig wurde, als die neuen Hausbesitzer kamen.
Gerne würde ich recherchieren und einen Artikel für die chrismon schreiben über die Traurigkeit der Leute, die vor seinen Eltern in dem Haus wohnten. Was ist daran mutig, sich nach 40 Jahren bürgerlichen Lebens auf dem Land Eigentum im gemachten Nest Berlin-Kreuzberg zu erwerben?? Es wäre total interessant, das Leben der Familie Grabitz mit dem eines in den 1980` ern und 1990`ern lebenden Kreuzbergers zu vergleichen. Am besten eines Kreuzbergers aus Grabitz` Haus.
Wir haben neuerdings auch so Nachbarn wie die Grabitzs: dort, wo vorher eine Brache von den Kindern im Kiez genutzt wurde, steht nun die 20000€-Bulthauptkochinsel des Rentnerehepaars, die einer Baugemeinschaft angehören. Sie rekeln sich nun selbstgefällig in ihren neuen Möbeln und problematisieren ihre neue Welt, weil es ja (noch!) keinen Biosupermarkt in unmittelbarer Nähe gibt. Was vorher hier war, ist ihnen egal, dass ihre Möbel mehr Geld kosten, als der Kiez für die Jugendarbeit jährlich zur Verfügung hatte, sowieso. Sie interessiert hier jetzt nur IHRE Wohnung, ihre neue Heimat. Narzissmus und Seele des Geldes...
Warum findet die chrismonredaktion soviel Gefallen an solcher Problematik? Was ist mit der Problematik der der Grabitzeltern gleichaltrigen Migrantengeneration, die nun diesen weichen muss, nachdem sie an selber Stelle 40 Jahre lebte, während die in ihrem Hammer Eigenheim Autos shampoonierten, wie der Sohn so treffend schreibt. Was ist mit der gleichaltrigen Sohngeneration, die sich in Kreuzberg für den Erhalt der Vielfalt stark gemacht hat und nun Platz machen muss für die gutverdienenden Söhne aus gutem Hammer Elternhaus? Was geben die Grabitz? Ist der gesamte Artikel nicht einfach eine aufgeblasene Gutverdienergeschichte?
50% der Rentner in Deutschland haben weniger als 900€ im Monat, titelte gestern eine Tageszeitung. Wenn Grabitz recherchierte, dass der Durchschnittsbestager 2200€ zur Verfügung hat, hat die andere Hälfte der deutschen Rentner ja schon ca. 4400€ monatlich. Am 1.Mai, "wenn sich die Kreuzberger Bevölkerung gern mal mit Pflastersteinen beschmeißt" (O-Ton Grabitz !!!) könnte die Familie ja in den Jemen flüchten, wohin die bestager lt.Grabitz ja so gern reisen. Aber da stören womöglich dann die Gepflogenheiten der Jemeniten.
Oder aber, wenn der Grabitzvater, durch und durch Pädagoge, "mittenhinein ins Leben" möchte, kann er sich in Kreuzberg ja auch mal mit dem 1.Mai befassen. Oder ist es der Sohn, der lieber in Hamm leben würde?
Wenn die Beschreibung dahin gehen würde, dass Grabitz sich in Kreuzberg einquartiert hat, dort wohl fühlt und nun seine gutbetuchten Eltern nachgeholt hat -o.k. so ist das nun mal gerade hundertfach. Weil das Reihenhaus-auf-dem-Land-Modell nicht mehr funktioniert. Aber diese Pseudoproblematik, dies Lamentiere und Gejammere, als gäbe es irgendwo in dieser Familie ein Problem, hat mich so dermaßen aufgeregt beim Lesen, dass ich unbedingt etwas dazu schreiben muss. Was ist mit der Problematik der Menschen, die gerade wegen einer solchen Entwicklung ihre Heimat, insbesondere gerade Kreuzberg verlassen MÜSSEN? Die kein Haus verkaufen, die Umzugsfirma beauftragen und einfach umziehen? Rührend auch, dass der Sohn sich um die Freizeit der Eltern solche Gedanken macht - vielleicht finden sie neben ihren Einsatz als Eigentümervorstand auch einen Anreiz darin, sich in einem der wenigen verbliebenen Projekten zu engagieren, die sich mit den Schwächeren in ihrem neuen Viertel befassen.
Der Sohn verdreht vor lauter Elternliebe die Tatsachen - nicht seine Eltern sind die Schwachen im neuen Kiez, sondern die Alteingesessenen. Zwar lässt das die meisten kalt, aber warum gibt ausgerechnet Chrismon jenen eine Plattform? Mit Titelfoto in der U-Bahn, wo doch der Vater Grabitz einen schönen Mercedes hat.
Mutig fände ich es, wenn man schon eher kapiert hätte, dass dieses Reihenhausgehabe "out" ist und sich eher hier in der Stadt engagiert hätte. So aber bleibt es einfach nur ein durchkalkulierter Umzug, eine verspätete Landflucht. Vielleicht darf ich ja auch mal zum Familienbrunch der Familie und meine Sichtweise schildern. Dann finden sie ihre Probleme vielleicht nicht mehr so gravierend und der Schmerz wird gelindert. Auf beiden Seiten.
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Lieber Herr Grabitz, durch
Lieber Herr Grabitz,
durch Zufall bin ich zu diesem Artikel gelangt. Aus irgendeinem Grund konnte ich nicht aufhören, ihn bis zum Ende zu lesen. Vielleicht liegt es an den sehr anschaulichen Worten, die Sie gewählt haben, vielleicht aber auch daran, dass ich HAMM mehr liebe als ich zugeben mag! Ich bin viel gereist, kenne viele verschiedene Länder dieser Welt, aber genau diese Kindheitserinnerungen, die Gerüche, das "ländliche" ....all das ist meine Heimat. Auch wenn es manchmal "verstaubt" wirkt. Muffig. Langweilig. Aber ich LIEBE es !! Es gibt bestimmt Orte, die schöner sind, aber hier habe und finde ich ALLES, was ich benötige. Meine Familie, die Nachbarn, die mir selbstgemachte Marmelade vor die Tür stellen, meine Freunde, die mal eben auf ein Bier rüberkommen, meine kleine Tochter (mit der ich jetzt die Radtouren mache, die mein Opa immer mit mir zusammen unternommen hat)....all das ist meine kleine Welt. und ich bin dankbar, dass ich sie habe! Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie, Ihren Eltern und Geschwistern alles erdenklich Gute in Berlin - Respekt vor dem Mut, in diesem Alter noch einmal von "vorne" anzufangen - aber tauschen möchte ich für kein Geld der Welt.
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