Michael Ondruch
Ein bisschen fremd
Der Mensch ist in diesem Leben nur auf der Durchreise. Dennoch darf er sich heimisch fühlen. Das passt doch nicht zusammen, oder?
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
15.05.2013

Das Gelobte Land ist da, wo Milch und Honig fließen. So schwärmte einst das biblische Israel für seinen fruchtbaren Landstrich zwischen Mittelmeer und Jordan. Dennoch hielten sich die antiken Israeliten selbst für zugezogene Fremdlinge (Psalm 105,11–12).

Alle Gläubigen seien stets „Gäste und Fremdlinge auf Erden“ gewesen, führt der Verfasser des neutestamentlichen Hebräerbriefs (11,13) den Gedanken fort. Auch ­Jesus von Nazareth scheint heimatlos, wenn er sagt: „Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege“ (Lukas 9,58).

Biblische Gründungsmythen sind Auszugsgeschichten. Sie handeln vom Aufbruch in die Fremde: Abraham zieht aus seinem Vaterland fort und Israel aus Ägypten. Die griechische Literaturgeschichte beginnt dagegen mit einer Heimkehr: Odysseus sehnt sich danach, den „Rauch von seinem Lande“ aufsteigen zu sehen. Abenteuer mit Ungeheuern, Naturgewalten und verführerischen Frauen halten ihn auf.

"Unser Wandel ist im Himmel"

In der Spätantike deutete man dieses Epos allerdings um. Odysseus repräsentiere die Seele, die sich nach ihrem geistigen Ursprung zurücksehne, sagten Christen – und auch andere Interpreten. Diese Seele lasse sich auf ihrer Erdenreise von Dämonen beflecken und kehre erst nach langer Irrfahrt himmelwärts heim.

Die wirkliche Heimat des Christen ist der Himmel - doch die Zeit auf der Erde ist kostbar und unendlich wichtig. Dies sagt Henning Kiene vom Kirchenamt der EKD zur Juni-Frage von chrismon Religion für Einsteiger.

Die Botschaft: Christen dürfen sich ruhig ein wenig fremd auf Erden fühlen. Kein Staatskult, keine nationale oder ethnische Zugehörigkeit soll sie binden. Wenn sie sich zusammenschließen, dann stets über nationale und ethnische Grenzen hinweg. Deutsche, schwedische und polnische Kirchen, weiße, schwarze, asiatische, evangelische, katholische und orthodoxe Kirchen sind lediglich Organisationen. Sie verweisen auf die eine Menschheitskirche Jesu Chris­ti. Es war ein Sündenfall für den deutschen Protestantismus, sich in dem Jahrhundert zwischen 1848 und 1945 einseitig Obrigkeit, Volk und Vaterland zu verschreiben.

###mehr-extern###Und es war missverständlich, wie moderne Überarbeiter der Lutherbibel den Vers Philipper 3,20 ins Deutsche übertrugen: „Unsere Heimat ist im Himmel“ – als müsse sich der Christ ganz aufs Jenseits vertrösten lassen. Im griechischen Urtext steht hier politeuma: „Unser Gemeinwesen ist im Himmel.“ Etwas blumig sagte der biblische Autor an diese Stelle: Wir urteilen und handeln nicht nach irdischen, sondern nach göttlichen Maßstäben. Martin Luther hatte es noch knapper übersetzt: „Unser Wandel ist im Himmel.“

"Erst in der vollen Diesseitigkeit lernt man zu glauben"

Wie so eine Himmelsbürgerschaft aussieht, wurde dem Theologen Dietrich Bonhoeffer am Tag nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler deutlich. Er saß wegen Wehrkraftzersetzung in Haft und schrieb in einem Brief an einen Freund, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens zu glauben lerne: „nämlich in der Fülle der Aufgaben, Fragen, Erfolge und Misserfolge, Erfahrungen und Ratlosigkeiten“. Denn erst wenn man in solcher Diesseitigkeit „völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann . . . dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern das Leiden Gottes in der Welt ernst.“

Wenige Menschen müssen so harte Bewährungsproben bestehen wie der Widerständler Dietrich Bonhoeffer. Dennoch können sich auch Durchschnittsprotes­tanten und -katholiken in ihren Gemeinwesen bewähren. Ein Christ strebt eben nicht nach dem rein Geistigen, er hält sich nicht von der angeblich moralisch verkommenen Gesellschaft  fern. Sondern wie Jesus von Nazareth geht er auf diejenigen zu, die der Hilfe bedürfen. Und wie der Kranke, der sich von Jesus helfen lässt, lässt er sich von anderen helfen.

„Suchet der Stadt Bes­tes“, empfahl schon der alttestamentliche Prophet Jeremia (29,7) seinen Landsleuten, die in die Fremde nach Babel verschleppt worden waren. Seinen Rat darf man noch heute annehmen – und heimisch werden, wohin auch immer einen die Lebenswege verschlagen.

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Wir brauchen ein anderes Gottesbild. Es gibt keinen allmächtigen Gott in einem Jenseits. Sondern es gibt in der Natur ewig verborgene Dinge. Wenn die Kirche nicht dementsprechend reformiert wird, verliert sie immer mehr Anhänger. In anderen europäischen Staaten ist man teilweise weiter, als in Deutschland; z. B. in Frankreich. Mehr dazu auf meinem Blog (bitte auf meinen Nick klicken).