Anja Lehmann
Kräftig durchforsten!
Worüber wir reden, wenn wir über Natur reden: Der Graf liebt es, die Natur zu gestalten, der Technikhistoriker beklagt den Landlust-Hype und die Schwärmerei der Deutschen
Portrait Burkhard Weitz, verantwortlicher Redakteur für chrismon plusLena Uphoff
Tim Wegner
24.05.2013

chrismon: Was haben Sie heute zum Frühstück gegessen?

Andreas Graf von Bernstorff: Es gab Tee, Marmelade aus eigenen Gartenfrüchten und Eier von Hühnern aus dem Kirchgarten. Den Käse haben wir im Bioladen gekauft.

Andreas Möller: Ich habe eine Scheibe Brot mit Hummus gegessen, also Kichererbsenbrei. Wir brauchten trockene Backbohnen. Die gibt es nur im Bioladen. Da habe ich gleich Hummus gekauft.

Sind Kunden, die Bioprodukte kaufen, die besseren Menschen?

Möller: Sich Gedanken zu machen, was und wie viel wir konsumieren, ist gut. Große Biosupermärkte werben aber damit, dass sie 200 Sorten Biowein haben und im Winter wie im Sommer dasselbe Obst und Gemüse. Dabei wollten wir das doch mal überwinden: alles überall zu jeder Zeit zu haben, wie im Discounter.

Herr Möller, Sie schreiben, der Kauf von Bioprodukten habe mit sozialer Abgrenzung zu tun. Wer grenzt sich von wem ab?

Möller: Heute wollen manche sich nicht mehr durchs größere Auto unterscheiden. Etwas anderes wird zum Label: Regionalität. Oder Kritik an Massentierhaltung. Das schickt sich in bestimmten Großstadtkreisen. Manchmal habe ich die Vermutung, das ist eine Art Ablasshandel.

Mit dem mittelalterlichen Ablasshandel kauften Gläubige sich von Sündenstrafen frei. Wovon kaufen wir uns heute frei?

Möller: Von den Schuldkomplexen der Wohlstandsgesellschaft. Viele Buchautoren besingen heute den Abschied vom Wachstum. Denen glaube ich nicht. Die Menschen sind nicht wirklich bereit, auf Mobilität und auf digitale Innovationen zu verzichten. Ich auch nicht. Gleichzeitig kaufen wir Produkte mit Öko- und Fair-Trade-Siegeln. Die machen es uns einfacher zu glauben, dass Qualität und Produktionsbedingungen stimmen. Mir ist es zu wenig, wenn man dann den Zeigefinger erhebt und anderen gegenüber einen moralischen Vorsprung beansprucht.

Bernstorff: Die Motive, warum Leute im Bioladen einkaufen, sind sicher unterschiedlich. Viele haben ein Unbehagen, weil wir mehr Ressourcen verbrauchen und vernichten, als wir in den Kreislauf der Natur zurückführen. Bei Fleisch und Milch stehen außerdem Tiere dahinter. Ich finde es total wichtig, dass man Aufmerksamkeit dafür erzeugt, woher das Fleisch kommt. Diejenigen, die danach fragen und die sich deshalb vielleicht auch besser fühlen, tun zumindest etwas dafür, dass ein Bewusstsein geweckt wird.

Möller: Aber ich beobachte eben auch eine Kopplung mit egois­tischen, privaten Motiven. Wenn in der Kita diskutiert wird, ob wir Zucker durch Bio-Agavendicksaft ersetzen, geht es nicht um die Umwelt, sondern um das eigene Kind. Ich wundere mich über die Ignoranz von Leuten, die jeden Tag die globale Verantwortung im Munde führen, denen aber ihr persönliches Scherflein Glück wichtiger ist als andere Fragen. Zum Beispiel die Frage nach dem Zerfall sozialer Systeme – wie er auch in meiner Straße in Berlin-Weißensee sichtbar wird.

Andreas Möller: "Die Kirchen sind leer, die Biomärkte rappelvoll"

Wer in den Biosupermarkt geht, kauft sich davon frei, mal beim Nachbarn zu klopfen, den er drei Tage nicht gesehen hat?

Möller: Mich stört eher die Kompromisslosigkeit. Mir erzählen Leute von CO2-Fußabdrücken, von Bio und Ökostrom mit einer Normativität, als ob sie über mein Leben bestimmen wollen. Sie erzählen aber nichts von verarmten Rentnern. Im Biosupermarkt trifft man eine homogene Schicht an – keine schreienden Schulkinder, keine Geringverdiener. Die Kirchen sind heute leer, die Biomärkte rappelvoll. Das finde ich bezeichnend.
Bernstorff: Viele Menschen müssen mit wenig Geld klarkommen. Aber diejenigen, die es sich leisten können, sollten sich ihre Verantwortung bewusst machen. Ich selber kann allerdings nicht groß auftrumpfen – ich lebe hier in einem Schloss und habe einen katastrophalen CO2-Fußabdruck.

Möller: Aber Sie leben schön!

Bernstorff: Und ich bringe Menschen zusammen, die sich Gedanken über die Zukunft machen. Hier gibt es die Oktobergespräche über Forst- und Holzwirtschaft. Wir haben Politiker dabei, Leute aus der Holzwirtschaft, Naturschützer. Es geht um Artenvielfalt im Wald. Da treffen entgegengesetzte Standpunkte aufeinander. Menschen, die Verantwortung haben, müssen sich einem Gedankenaustausch stellen. Die Ressourcenprobleme sind knallhart.

Das hilft aber nicht den Menschen, denen Bio zu teuer ist.

Bernstorff: Da hat der Staat eine Lenkungsaufgabe. Wenn wir durch unsere Produktwahl späteren Generationen Schäden aufbürden, müssten diese Folgekosten auf das Produkt aufgeschlagen werden, mit einer Art Ökosteuer. Das Geld, das der Staat dabei kassiert, sollte er jenen zurückgeben, die sich teure Lebensmittel sonst nicht leisten können. Auch für Benzin oder Diesel müssten wir den Preis zahlen, den wir unseren Kindern durch die Umweltschäden aufhalsen. Industrielle sagen mir: Dann geht die Wirtschaft kaputt, die Leute kaufen keine Autos. Das glaube ich nicht. Es würden andere Autos gebaut, die weniger verbrauchen.

Möller: Man darf aber Wettbewerbs- und Standortbedingungen nie ganz aus dem Blick verlieren. Wenn Strom zu teuer wird – wie derzeit bei der Energiewende –, kann das die Situation auch verschlimmern. Viele Deutsche glauben ja noch, die Energie­wende sei Ausdruck unseres tieferen Verständnisses der Natur. Wir würden uns mehr um die Natur sorgen als andere. Tatsächlich haben wir nur größere Angst vor technischen Risiken. Aus dieser Haltung heraus gucken wir gern auf die technikgläubigen Amerikaner und Japaner herab und halten es für fahrlässig, dass die USA auf das Fracking setzen und Japan auf die Kernenergie.

Was für ein Naturverständnis haben die Deutschen denn?

Möller: Der Deutsche liebt die Natur immer dann, wenn sie auch geordnet ist. Das war schon bei den preußischen Schloss- und Landschaftsgärtnern so. Wir empfinden nicht naturnäher als andere, haben aber einen stärkeren Wunsch nach Sicherheit, nach Planung und Kontrolle. Es ist eine fast ingenieurwissenschaftliche Haltung, die Natur optimieren und schützen will.

Bernstorff: Was Sie kritisieren?

Möller: In einer Welt, in der die Taktzahl immer höher wird, projizieren wir Werte wie Beständigkeit oder Kontinuität auf die Natur. Nehmen Sie den Begriff „Klimawandel“. Ich stelle nicht in Frage, dass der Mensch das Klima beeinflusst. Aber der Begriff ist doch vielsagend: Alles wandelt sich, der technische Fortschritt beschleunigt alles – aber die Natur soll so bleiben, wie sie ist. Die Natur ist aber nicht statisch.

Bernstorff: Einen gewissen Kontrollwahn erlebe ich auch als Forstmann. Wenn ich einen Baum fälle, heißt es, das sei gegen die Natur. Sicher soll ein Wald möglichst natürlich sein, er ist aber auch ein Wirtschaftsobjekt. Ich kann mir Naturschwärmerei nicht leisten. Ich muss den Wald bewirtschaften.

Möller: In den 1970er Jahren hieß Naturschutz: Die Landschaft soll nicht industrialisiert werden. Schauen Sie sich heute in Zeiten der Energiewende die Uckermark an. In Penkun steht eines der größten Biogaskraftwerke der Welt und drumherum diese gigantischen Monokulturen mit Mais und Raps. Die sind im Sommer ähnlich tot wie eine Betonfläche, was die Artenvielfalt anbelangt.

Bernstorff: Unsere Möglichkeiten sind heute zerstörerisch für die Natur, wenn sie nicht richtig eingesetzt werden. Ich sehe das in der Forstwirtschaft: Wir haben diese riesigen Maschinen, die Harvester, die in wahnsinnig kurzer Zeit den ganzen Wald­bestand der Erde runterkloppen könnten. Gleichzeitig bietet gerade die ­moderne Technik die Möglichkeit, ökologisch orientierten Waldbau zu betreiben: Die Kranlängen werden immer größer, so dass man sehr sensibel einen naturgemäßen Waldbau betreiben kann. In unserem Wald ist seit 50 Jahren der Kahlschlag ver­boten.

Gibt Ihnen die Natur auf, in den Wald einzugreifen?

Bernstorff: Naturgemäßer Waldbau heißt nicht, den Wald sich selbst zu überlassen. Ein leistungsfähiger Wald muss immer kräftig durchgeforstet werden! Die Erfahrungen sind fantastisch. Ich kann heute, ohne mich gegen den Gedanken der Nachhaltigkeit zu vergehen, das Dreifache an Holz nutzen wie vor 40 Jahren. Nachhaltig zu wirtschaften liegt beim Wald auf der Hand. Der Begriff Nachhaltigkeit kommt ja auch aus der Forstwirtschaft.

Möller: Ich wollte Sie eigentlich für mein Buch interviewen. Auch weil ich mir vorstellte, wie Anti-AKW-Demonstranten in die freie Natur kommen, ein Lagerfeuer anzünden und merken müssen, wie ihr Naturbild mit der Natur kollidiert.

Graf Bernstorff, mussten Sie bei den Castor-Demonstrationen jemals Stadtleuten helfen, sich im Wald zurechtzufinden?

Möller: ...also Leuten, die die Natur unterschätzt haben, die sie eigentlich schützen wollten?

Bernstorff: Nein. Wenn es kalt wurde, sind die in die Kirche gegangen. Die Castoren wurden ja immer transportiert, wenn es draußen ungemütlich war: nachts im November. Sicher haben die Demonstranten Vorstellungen von der Natur. Viele glauben, dass die Kernenergie der Natur aufs Härteste ins Gesicht schlägt. Das glaube ich übrigens auch. Die Faszination, dass man mit kleinen Urantabletten eine gewaltige Energie entfesseln kann, hat ihre Kehrseite. Da werden Kräfte entfesselt, die wir nicht beherrschen. Zudem gibt es weltweit kein Endlager für den Atommüll. Des­wegen freue ich mich über alle, die zum Demonstrieren herkommen. Sie stehen dagegen auf, dass hier, wo die geologische Formation ungeeignet ist, ein atomares Endlager entsteht.

Herr Möller, warum sollten sich Leute, die gegen das Endlager protestieren, falsche Vorstellungen von der Natur machen?

Möller: Früher war die Hälfte der Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt – heute ist Natur auf die Rolle des Freizeit­vergnügens reduziert. Das schafft den Landlust-Kosmos – und den Erfolg des gleichnamigen Magazins. Der Widerspruch macht vor mir nicht halt. Ich liebe die Kontemplation beim Angeln. Ich wünsche mir einen unmittelbaren Bezug zu den Dingen. Ich ­fange den Fisch, töte und esse ihn. Solche Erfahrungen fehlen uns in der arbeitsteiligen Gesellschaft.

Sie sind Angler?

Möller: Ja. Ich weiß, wie sich das anfühlt, einen Hecht zu zerlegen, und dann zu entdecken, dass er eine Plötze im Magen hat.

Bernstorff: Aber das ist doch Landlust!

Möller: Aber es geht vielleicht über das hinaus, was das Millionenpublikum von „Landlust“ empfindet.

Ist Ihr Naturerleben erlesener als das der Masse?

Möller: Nein. Ich meine, dass man eine nicht mehr vorhandene Naturerfahrung durch Wohlfühlthemen ersetzt. Und ich glaube, dass die Hysterie und das einseitige Fokussieren auf die CO2-Problematik „Theoretiker“ hervorbringen. Fragen Sie heute mal Kinder nach dem Klimawandel, nach CO2 – und dann nach dem Unterschied von Roggen und Gerste. Was kennen sie besser? Wir leben heute nur noch von medialen Naturbildern.

Bernstorff: Die Beziehung zur Natur ist wichtig und elementar. Jetzt gibt es bei uns in Niedersachsen einen großen Streit: Soll man die Elbe begradigen, soll man sie vertiefen? Das, was ein Naturerlebnis ausmacht, ist dann gefährdet. Also das, was für Sie auch ein Teil Ihrer Landlust ist, wo Sie angeln und wo das Ursprüngliche der Landschaft noch erkennbar ist. Die einen wollen die Elbe für die großen Kähne schiffbar machen, die anderen den Lauf der Elbe erhalten, ein legitimes Anliegen der Landlust-Idee.

Stellen Sie unberührte Natur gegen wirtschaftliches Kalkül?

Bernstorff: Nein, ich kann auch an einem unbegradigten Fluss wirtschaften! Und nehmen Sie das Elbholz. 1825 wurden hier nach einem forstlichen Regelwerk Eichen und Linden gepflanzt. Heute denken viele, Forstleute ausgenommen: wie urtümlich! Für diese Natur begeistert sich jeder, die Kraniche kommen, womöglich bald auch wieder Wölfe. Aber es ist eben Kulturlandschaft, von Menschen entwickelt. Die Frage muss immer lauten: Welche Art Wirtschaft gehört in welche Landschaft? Wenn alles betoniert wird, gibt es keine Natur mehr.

Graf Bernstorff: "Natur gestalten ist für mich etwas Fantastisches"

Gibt es unberührte Natur, in die Sie sich gerne zurückziehen?

Bernstorff: Ich lebe ja inmitten der Seege-Niederung an einem Nebenfluss der Elbe. Ich liebe den Waldhain in unserem Park, der war voller Unterholz. Das habe ich mit Maschinen entfernen lassen. Naturschützer würden sagen: „Da nisten doch Vögel!“ Jetzt sieht man die schönen dicken Baumstämme. Dazwischen haben wir Rasen angesät. Im Frühjahr kommen die Krokusse und ­Hyazinthen. Natur gestalten ist für mich etwas Fantastisches.

Waren Sie jemals von der Natur existenziell bedroht?

Bernstorff: Im großen Sturm 1972 hatte man das Gefühl: Jetzt fallen uns die dicken Linden aufs Haus. Am nächsten Tag flog ich mit dem Hubschrauber über den Forst. Ich hatte den Eindruck, der ganze Wald liegt auf der Nase, meine wirtschaftliche Existenz ist zerstört. Das war noch schlimmer beim Waldbrand 1975: An einem Tag brannten 2000 Hektar ab, von denen etwa 600 Hektar mir gehörten. Die riesige Feuerwalze überflog geradezu die Bundesstraße zwischen Gartow und Trebel. Man ist ohnmächtig.

Möller: Ich hatte ein Erlebnis als Kind mit einem Ruderboot auf einem großen Mecklenburger See. Das nächste Ufer war weit. Blitze schlugen auf dem Wasser ein, ein grandioses Unwetter. Der Natur wohnt etwas inne, das wir nicht in die Hand bekommen.

Graf Bernstorff, könnten Sie in Ihrem Forst mit Flinte, Streichhölzern und Schlafsack ein Jahr lang im Freien überleben?

Bernstorff: Vielleicht könnte ich, aber ich habe überhaupt keine Lust. Ich liebe die Wärme in meinem Haus. Als Kinder unter­nahmen wir Ausflüge mit Pferdewagen in den Wald und übernachteten dort. Wunderschöne Erlebnisse, für die Jugend sind sie wichtig! Mein Sohn und seine Lebensgefährtin haben ihr Kind im Waldkindergarten, die gehen immer raus. Das möchte man allen Kindern wünschen. Wer das Landleben gar nicht kennt, erkennt auch nicht mehr, welche Gefahren der Natur aus menschlichem Handeln drohen. Wie wir in atemberaubend kurzer Zeit das, was die Erde in Millionen Jahren produziert hat, verbrauchen. Wenn man darüber nachdenkt, kann man Depressionen bekommen!

Möller: Ich würde es auch nicht lange in der freien Natur schaffen. Fische fangen ist nicht einfach. Ich gäbe mir eine knappe Woche. Aber nur, wenn ich meinem Sohn und meiner Tochter ein Vorbild sein müsste.

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