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Was der christliche Glaube ist und will, könnte man in zwei Sätzen sagen, der eine: Christus ist das aufgedeckte Antlitz Gottes, und in ihm sind „alle Schätze der Weisheit und der Erkenntnis“ geborgen. Der zweite Satz: „Lebt in ihm.“ Das heißt: Lebt, wie er gelebt hat, der das Brot der Hungernden und das Recht der Getretenen ernst genommen hat. Anders gesagt: Der Glaube lehrt uns Gnade und den Durst nach Gerechtigkeit.
Es ist schade, dass in der paulinischen Tradition der Durst Christi nach dem Recht der Armen so blass bleibt. Dass sie Christus „dem Fleische nach“ (2. Korinther 5,16) so wenig kennt und beachtet. So könnte Christus zu einer reinen Erlösungschiffre werden. Aber das ginge auf Kosten der Armen. Christus ist nicht gekommen, um unsere Zeche zu bezahlen und uns im Übrigen ungeschoren zu lassen.
Die Gefahr in allen Religionen: korrekte Aussagen, in denen die Wahrheit verdorrt
Zwei Sätze also: Setzt auf Christus, in dem ihr „verwurzelt und gegründet“ seid! Der andere: Lebt, wie er gelebt hat! Von bildlosen Sätzen allein kann man nicht leben. Ihre Wahrheit legt sich aus in Hymnen, Gebeten, Umspielungen und Preisungen. Und so spielt der Verfasser des Kolosserbriefes: In diesem Christus ist alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist (1,16). Er ist vor allem, und in ihm besteht alles (1,17). Und in einem wundervollen Bild: Er hat den Schuldbrief getilgt, der gegen uns sprach; er hat ihn ans Kreuz geheftet (2,14). Es sind poetische Liebesspiele, ohne die der Glaube nicht auskommt und die ihn erst zu Broten machen, von denen man leben kann.
Es gibt eine Grundgefahr in allen Religionen: dass die Spiele, die die Wahrheit bergen, zu korrekten Aussagen werden, in denen die Wahrheit verdorrt. Die genaue Wiederholung überlieferter Formeln wird zum Ideal. Aber alles, was wir über Christus sagen, sind Bekenntnisse und Lieder. Bei Liedern fragt man nicht danach, ob sie korrekt sind. Bekenntnisse sind abhängig von den Bekennenden. In sie sind deren Leiden, ihre Wünsche und Ängste eingewickelt. Das macht ihre Verschiedenartigkeit und ihre Lebendigkeit aus. Die Aussagen über Christus verlieren dort ihre Kraft, wo sie als objektive verstanden werden, zu allen Zeiten und von jedem zu machen, unüberholbar und unberührt von Zeitläufen und vom Schicksal ihres Bekenners. „Die Bewahrung der Tradition ist ein schöpferischer Akt“, sagt der tschechische Priester und Soziologe TomአHalík. „Die Tradition ist immer eine Reinterpretation von Vorherigem – während Traditionalisten an diesem Punkt untreu werden.“ Wer nicht interpretieren will, hört auf zu bewahren.
Wer nicht das Risiko des Irrtums eingeht, spürt nicht das heiße Feuer der Wahrheit
Religiöse Sprache ist, wo sie den Namen verdient, eine poetische Sprache, das heißt, dass sie nicht zu hören ist abgelöst von den Sprechenden, von ihren Tränen und von ihrem Jubel. Sie ist gerade keine Einheitssprache, die zu allen Zeiten zwischen Tokio und Lima gilt. Sie ist Auslegung, nicht nur Wiederholung eines immer schon Gesagten.
Das heißt nicht, dass sie willkürlich die Gemütslagen von unverbundenen Individuen ausdrückt. Wir haben Texte und Traditionen, die über unsere Auslegung Christi richten, sie aber nicht beherrschen.
In jede Auslegung gehen das Charisma und die Blindheit der Auslegenden ein. Dass wir in unserer Interpretation durch „Philosophie und leeren Trug“ eingefangen werden, ist wohl nicht zu vermeiden. Die Wahrheit kommt selten geradlinig daher. Es wird probiert, es wird verworfen. Wo aber nicht mehr probiert wird, wo religiöse Sätze reine Zitate sind und wo man das Risiko des Irrtums nicht eingeht, da spürt man nicht mehr das heiße Feuer der Wahrheit. „Die getreue Wiedergabe ist eine echte Fälschung“, sagt der israelische Lyriker Elazar Benyoëtz.
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Wie schön!
Wenn ich bei Facebook wäre, würde ich jetzt den Like-Button drücken, allein schon für die ersten beiden Absätze. Zusammen mit dem Kolosserauszug wäre mir das eine völlig ausreichende Predigt. Mehr als man häufig in vielen Sätzen hört - weniger ist oft mehr.
Apropos:
Überhaupt würde ich mir wünschen, dass Prediger mehr den Mut hätten, die biblischen Texte für sich selbst sprechen zu lassen, statt daraus komplizierte Gedankengebäude zu bauen. Als ob im Text selbst nicht genug Inhalt, Herausforderung, Zusage, Verheißung, ... steckte.