Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft, als im Mai eine Amsel unseren Balkon auserwählte für ihre Familiengründung: Sie baute ein Nest in die Werkzeugschale oben auf der Haushaltsleiter; die lehnt in einer Ecke des Balkons. Tiere fühlen sich bei uns wohl, wie schön, wir waren gerührt.
Aber es war natürlich trotzdem noch unser Balkon. Wir würden ihn nicht wochenlang einer Amsel für ihr Brutgeschäft abtreten. Darüber sollte sie sich erst gar keine Illusionen machen. Demonstrativ gingen wir öfter nah am Nest vorbei, und auch die Wäsche hängten wir weiterhin auf dem Balkon auf. Unsere Amsel duckte sich dann ins Nest, riss die Augen auf, blieb aber da.
Die neue Mitbewohnerin gewöhnte sich schnell an uns. Als vertrauensbildende Maßnahme schnitt ich Rosinen klein und trug das Schälchen betont langsam unter ihren Augen vorbei und stellte es auf die Balkonbrüstung. Sie guckte mir zu und rührte sich nicht. Abends war das Schälchen leer.
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Nach 14 Tagen Brüten schlüpfte das erste Küken. Schlapp lag es da, ein federloses rosa Häufchen, die Augen noch überwachsen mit Haut. Aber alsbald reckte es den kahlen Hals, riss das weißumrandete Schnäbelchen auf, dass man weit in den flammend orangen Schlund blicken konnte. So signalfarben, dass wir fast selbst gerannt wären, um ein Räupchen zu finden und reinzustopfen. Aber da kamen schon die Eltern, Zappelndes, sich Windendes, Unaussprechliches im Schnabel.
Dem Vater, dem Amslerich, fehlte allerdings die Seelenruhe seiner Amseline. Er neigte zur Panik. Entdeckte er uns im Anflug auf dem Balkon, drehte er wieder bei und flog mitsamt dem Futter zeternd davon.
Proteinreicher Ekelkram
Endlich waren alle fünfe geschlüpft, das Fünfte weit im Rückstand, oft mit dem Hals unter den Geschwistern vergraben, heftig atmend hob und senkte sich das winzige Brustkörbchen. Beängstigend hilflos. Sie rochen nicht gut, das will ich nicht verschweigen, kein Vergleich zum Beispiel mit dem anheimelnden Duft eines Häschens. Aber das frisst auch nur Gras, während unsere Kükenschar den ganzen Tag proteinreichen Ekelkram schluckte: Maden, Engerlinge, Fluginsekten, Würmer. Klar, die Vögelchen benötigen tierisches Eiweiß, damit sie schnellstens wachsen. War ein Beutetier zu groß, zogen die Eltern den Brocken wieder aus dem Schlund und stopften ihn andersherum rein. Auch sah ich Vater und Mutter mal an einem Gewürm ziehen, bis es entzweiriss - und also mundfertig war.
Und wie sie wuchsen! Schon stachen ihnen schwärzliche Federkiele aus der Haut. Nur die beiden flaumigen Winkepuschel über den Augen, die blieben ihnen bis zuletzt. Es wurde eng im Nest. Aber sauber blieb es trotzdem. Die Alten flogen öfter mit weißlichen Kotbällchen im Schnabel davon - manchmal sahen wir aber auch, wie sie den Kot ihrer Jungen einfach verschluckten. Gäste wurden zu unserer neuen Attraktion geleitet, und sie reagierten wie wir: gleichzeitig gerührt und angegruselt.
Nach zwei Wochen streckten die ersten drei Küken ungelenk ihre Beine, balancierten gefährlich auf dem Nestrand, purzelten schließlich auf den Balkon, von dem sie - vermutlich nachts - von den Eltern irgendwie hinuntergeleitet wurden - vermutlich über den rankenden Blauregen.
Aber da waren noch die beiden Mickerlinge. Die hatten sich nun auch endlich befiedert, fielen schließlich aus dem Nest - aber dann ging es nicht weiter. Fliegen konnten sie noch nicht, ihnen fehlten noch die Schwungfedern an den Flügeln und die Schwanzfedern zum Steuern. Das bisschen Geflatter und Gehopse reichte nicht, um auf die Brüstung zu kommen. Kaum sahen sie uns, rannten sie davon in die nächste Ecke, mit ihren pubertär riesigen Füßen laut über den Holzboden tapsend.
Alles war mit Vogelkot eingesaut
Die Eltern fütterten ihre Jüngsten unermüdlich weiter - aber die Müllabfuhr wurde eingestellt. Was das bedeutete, wurde uns in vollem Umfang erst klar, als endlich auch das letzte Küken entflogen war, drei Tage nach dem vorletzten.
Der Balkon war komplett mit Vogelkot eingesaut. Die Gartenliege, die Wäsche auf dem Ständer, die Hula-Hoop-Reifen, die Leiter, die Brüstung - alles voll. Und offensichtlich waren die Jungvögel auch noch mit den dunklen Beeren des Felsenbirnenstrauches gefüttert worden. Die Flecken machten sich besonders gut an der weißen Hauswand. Eine halbe Stunde lang war mein Mann mit Hochdruckreiniger und Atemschutzmaske zugange, bis unser Balkon wieder bewohnbar war. Danach ging er duschen und stopfte seine Kleidung in die Waschmaschine.
Wenige Tage später sahen wir durch die Balkontür, wie ein Amselweibchen heftig auf das verlassene Nest einpickte - offensichtlich fand sie das einen genialen Nistplatz für die Zweitbrut, Amseln bauen immer neue Nester. Wir rissen die Balkontür auf und verscheuchten sie. Die unwiderstehliche Werkzeugschale auf der Haushaltsleiter verhüllten wir mit einer Tüte. "Nie wieder Amseln", sagte ich. "Und wenn", sagte mein Mann, "dann sind höchstens drei Eier zulässig, aus den anderen beiden machen wir Amselrührei."