Anti-Kriegs-Demo in Frankfurt
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Tamriko Sholi
Wie sollten wir über den Krieg reden?
Wir kritisieren die Medien oft für die falsche Berichterstattung über Kriegsereignisse und werfen ihnen sogar vor, Propaganda zu verbreiten. Aber was, wenn jeder von uns diesen Fehler machen kann?
privat
04.04.2023

Vor ein paar Tagen hörte ich zufällig zwei Männer, die über den Krieg in der Ukraine sprachen. Sie saßen im Café ganz nah bei mir und redeten ziemlich laut auf Englisch. Es gab viele falsche Schlussfolgerungen in ihrem Gespräch, weil sie mit der Geschichte der Ukraine offensichtlich nicht vertraut waren (was absolut normal ist, weil dies nicht ihr Heimatland ist). Als ich hörte, was sie sagten, fühlte ich sowohl Schmerz als auch Empörung. Es wäre jedoch unethisch, sich einzumischen, also hielt ich mich zurück. Aber warum haben mich ihre Worte so verletzt? Die Worte von völlig Fremde, gewöhnlichen Menschen, die keine Journalisten, Experten oder Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sind?

In der Ukraine habe ich an der Schule für Geschichte und Recht gelernt. Alle Shuler:innen konnten sich ein bestimmtes Thema zum Studium nehmen und eine kleine analytische Studie darüber schreiben. Vier Jahre lang habe ich mich intensiv mit der Geschichte des Dritten Reiches und des Zweiten Weltkriegs beschäftigt, mit einem Schwerpunkt auf dem Holocaust.

Damals wurde mir klar, welche große Rolle bei der Entfesselung eines Krieges und nationaler Diskriminierung die Propaganda spielt, die auf der Verzerrung von Fakten und Konzepten basiert. Was mich jedoch beeindruckt hat, war die Tatsache, dass die Gesellschaft selbst dazu beiträgt, Propaganda zu verbreiten. Aber wie? Unwissentlich. Verstärkt wird das zudem durch den Effekt der „Flüsterpost“.

Menschen (unabhängig von der Nationalität) machen ständig diesen Fehler: Sie verwenden in einem Gespräch verschiedene Begriffe, ohne ihre genaue Bedeutung zu verstehen. Oder sie glauben, dass es sich dabei um Synonyme handle.

Seit Beginn des großen Krieges in der Ukraine sind in den europäischen Medien viele neue Begriffe aufgetaucht. Zum Beispiel "Banderovci", "ATO in Donbass", "Russifizierung". Jeder dieser Begriffe geht auf die jahrhundertelange Geschichte der Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland zurück. Aber für viele Ausländer können beispielsweise die Wörter "Banderovci" und "Mörder" synonym sein. Oder - „Krieg“ und „bewaffneter Konflikt“. Oder "ATO in Donbass" und „Bürgerkrieg“. Aber all diese Wörter sind keine Synonyme und waren es nie.

Aus dem Missbrauch von Worten entstehen Mythen

Wenn eine Person diese Begriffe im falschen Kontext verwendet, verzerrt sie unwissentlich die Geschichte und stellt jene historischen Ereignisse oder Menschen, die für der Gesellschaft tatsächlich viel Gutes getan haben, in ein negatives Licht. Und umgekehrt: Es kann Verbrechen romantisieren, und das wird in Zukunft große negative Folgen haben. Aus dem Missbrauch von Worten entstehen Mythen und falsche Aussagen, an die andere Leute zu glauben beginnen. So festigt sich die manchmal sehr gefährliche öffentliche Meinung. Und es braucht nur sehr wenige Menschen, um eine bedrohliche Meinung in der Gesellschaft zu verstärken.

Laut einer Untersuchung des Social Cognitive Networks Academic Research Center in den USA (SCNARC) reicht es aus, wenn zehn Prozent einer Gesellschaft fest an denselben Ansichten festhalten, damit die Mehrheit der Gesellschaft auf ihre Seite wechselt. Das heißt, wenn jeder Zehnte in privaten Gesprächen Begriffe falsch verwendet oder verzerrte Informationen verbreitet, reicht dies aus, um eine falsche oder schädliche öffentliche Meinung zu bilden. Zum Beispiel, „Juden sind gefährlich“ oder „die Ukraine wird von Nationalisten regiert“. Gleichzeitig ist es wichtig, dass dies besonders für private Gespräche gilt, weil Menschen eher die Informationen weitergeben, die sie während der Unterhaltung mit Bekannten erhalten und nicht aus den Medien.

Denken sie nur: 10% - und das ist genug, um die Gesellschaft von etwas zu überzeugen, zum Beispiel einen Krieg gegen ein anderes Land zu beginnen.

Es hängt jedoch von jedem von uns ab, ob man dieser „jeder Zehnte“ sein wird.

Dabei kann es so einfach sein: Wenn Sie die genaue Bedeutung sowohl des historischen als auch des modernen Kontexts des Begriffs nicht kennen, verwenden Sie ihn besser nicht in einem Gespräch. Besonders, wenn es um Krieg geht, weil es zu ernst ist. Krieg bedeutet den Tod von vielen Kindern, die definitiv an nichts schuld sind.

Hier sind einige gute Tipps, die man beachten sollte, wenn man über Krieg spricht:

- nicht verallgemeinern (z. B. Gründe für die Rückkehr von Flüchtlingen in ihr Heimatland)

- nicht übertreiben / nicht unterschätzen (z. B. die Zahl der Opfer des Bombenanschlags)

- nur die Tatsachen äußern, die von einer offiziellen Quelle oder direkten Teilnehmern an der Veranstaltung genau bestätigt wurden

- Konzepte nicht ersetzen: Wenn Zivilisten in einem zivilen Gebäude (z. B. in einem Supermarkt oder in einem Wohngebäude) getötet werden, handelt es sich um einen „Terroranschlag“ und ein „Kriegsverbrechen“ und nicht um einen „Unfall“ oder „Nebenwirkung des Krieges“

- Geben Sie keine politischen, wirtschaftlichen, sozialen Prognosen und Schlussfolgerungen ab, wenn Sie kein Experte auf diesem Gebiet sind

- Versuchen Sie Kriegsbetroffene nicht psychologisch zu beraten  (Sie helfen besser, indem Sie bei der Suche nach einem Spezialisten auf diesem Gebiet unterstützen, der wirklich qualifizierte Hilfestellung leisten kann).

Jeder Mensch auf dieser Welt sollte begreifen, dass er für seine Worte verantwortlich ist. Weil Krieg von Politikern entfesselt wird, aber gefährliche Aussagen, die den Krieg unterstützen könnten, werden von einfachen Menschen verbreiten.

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Kolumne

Tamriko Sholi

Wer bin ich, wenn ich keine Heimatgefühle mehr habe? Was machen Krieg und Flüchtingsdasein mit mir? Darüber schreibt die ukrainisch-georgische Schriftstellerin Tamriko Sholi in Transitraum