Hände einer alten Frau mit Stock
Sabine van Erp auf Pixabay
"Das wird mich nicht umhauen"
Niemand hat gerne ein Wattestäbchen in der Nase. Aber die alten Leute, die ich teste, ertragen es mit Fassung und Freundlichkeit
Portrait Hanna Lucassen, Redaktion chrismon, Redaktions-Portraits Maerz 2017Lena Uphoff
23.12.2020

Der Ordner füllt sich. Jeden, den ich auf Corona teste, trage ich in die Liste ein. Die alten Menschen, die hier im Heim leben und die Besucher:innen. Beide empfange ich in der sogenannten Bibliothek, die zur Terrasse rausgeht.

Die Bewohner:innen warten im Flur davor, an runden Tischen wie in einem kleinen Café, auch sonst sitzen sie dort zusammen. Wenn ich sie reinrufe, verabschieden sie sich oft mit Witzchen von den anderen. Sie schieben den Rollator langsam durch die Tür, setzen sich mühsam auf den Stuhl und warten geduldig, bis ich die Flüssigkeit in das Röhrchen gefüllt, den Test beschriftet habe, ihre Namen eingetragen habe. Meine größte Sorge ist, etwas durcheinanderzubringen, deshalb bin ich da besonders sorgfältig. "Ach, machen Sie ruhig, ich habe Zeit!" sagen sie dann - und mir fällt auf, wie selten ich das sonst höre.

Scheußliches Kribbeln

Ich erkläre ihnen, dass ich mit dem langen dünnen Wattestäbchen tief in die Nase gehen werde, und dass es ein paar Sekunden dauert. "Es tut nicht weh, aber es ist ziemlich unangenehm." Mein Spruch basiert auf Erfahrung. Ich werde jedesmal selbst getestet, wenn ich zum Dienst komme, es kribbelt scheußlich, und die Augen beginnen zu tränen. Man muss sich schon zusammennehmen, finde ich. Die alten Damen beeindrucken mich. "Ich habe in meinem Leben schon so viel mitgemacht, das wird mich nicht umhauen", höre ich mehr als einmal. Und wirklich überstehen es fast alle mit viel Contenance. Haltung, Würde. Sie tupfen die tränenden Augen mit den Taschentüchern ab, die immer im Rollator liegen, setzen die Brillen wieder auf und wechseln das Thema.

Eine Frau erzählt, sie habe hier einen Freund. Er sei auch aus Ostpreußen und könne schön erzählen. Er kommt gleich nach ihr durch die Tür. Als er hört, dass ich auf der masurischen Seenplatte Urlaub gemacht hatte, fragt er verzückt nach den Städtenamen. Eine andere Frau mit hochgesteckten dicken Haaren, einem offenen Gesicht und einer sehr klaren Stimme ist 96. "Ich habe früher viel Sport getrieben", sagt sie und lacht, weil sie das andauernd erklärend sagen muss.

Das Kind, das viel zu selten kommt

Besucher:innen von außen kommen durch die Terrassentür. Eine Mitarbeiterin des Heimes geleitet sie vom Haupteingang dorthin, und ruft mir zu: Hier ist noch jemand! Wir haben meist die Tür auf, zum Lüften. Nach dem Test warten die Angehörigen 15 Minuten an der Pforte auf das Ergebnis. Erst dann dürfen sie rein zu ihren Müttern, Vätern, Großeltern.
Ganz entspannt sind die wenigsten. Gut, der Test, den sie jedesmal über sich ergehen lassen müssen, ist nicht schön. Aber das ist es nicht allein. Sie wirken ein bisschen so, als würden sie sich innerlich rüsten müssen, für die Stunde, die vor ihnen liegt. Ist ja auch kein Wunder. Es ist ein Übergang. Draußen sind sie tatkräftige Erwachsene, Chefinnen, Liebhaber, Eltern. Hier drinnen sind sie: das Kind. Das nie lang genug bleibt. Und viel zu selten kommt...

Ich weiß noch gut aus meiner Zeit als Pflegerin, wie zögerlich viele Angehörige die Station betraten. Vor dem Schwesternzimmer fragten sie etwas bang: "Wie geht es der Mutter denn heute?" und atmeten einmal tief durch, bevor sie dann an die Zimmertür klopften. Welche Eltern-Kindbeziehung ist schon ganz unbelastet?

Alles negativ

Das Heim ist übrigens Corona-frei. Alle Tests sind bislang negativ. Ich gewöhne mich daran, dass auf den Teststreifen nur ein Strich erscheint. Ob ich irgendwann mal erleben werde, dass sich ein zweiter zeigt? Ich wünsche es mir nicht. Und den Leuten hier erst recht nicht.

 

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Kolumne

Hanna Lucassen

Schwester, Schwester! Hanna Lucassen erzählt von Streiks, Spritzen und Sonntagsdiensten.