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Ich muss mich heute mit dem Schreiben beeilen, am Nachmittag habe ich endlich wieder Dienst im Altenheim. Ich habe diesmal ein bisschen die Tage gezählt.
Denn jedes Mal, wenn ich mit meinem Wägelchen voller Corona-Tests durch die Flure ziehe, treffe ich Frau Paulsen. Eine alte Frau mit einer fortgeschrittenen Demenz, die natürlich anders heißt. Sie sitzt fast immer mit ihrem Rollstuhl in der offenen Tür ihres Zimmers und schaut in den Flur. Sie hat so einen Blick drauf - der ist unwiderstehlich, finde ich. Eine ganz spezielle Mischung aus Freundlichkeit, Tatendurst und Selbstironie. Ich kann auf jeden Fall nie bei ihr vorbeigehen, ohne ein bisschen zu verweilen. Wir reden, über was? Das letzte Mal strahlte sie richtig und sagte zu mir. "Wissen Sie, ich fühle mich so..." Sie sucht nach dem richtigen Begriff. "So... glücklich! Ja, richtig überglücklich." Das passende Wort - und dann noch so ein Schönes! Die Erleichterung ist ihr anzusehen. Sie betont jede Silbe mit großer Sorgfalt.
Die Entscheidung
Frau Paulsen war gerade aus dem Tagesraum zurückgekommen, ein Betreuer hatte mit den Bewohner:innen Gymnastik gemacht. Sport und Bewegung ist ohnehin ihr Ding. Sie war mal Leistungssportlerin, wenn ich sie richtig verstanden habe. Wir sprechen über Eislaufen. Ja, das konnte sie auch. Sie verdreht genießerisch die Augen. Aber richtig gut war sie in... In...
Fragend sieht sie mich an. Dreht die Handflächen nach außen, hebt die Schultern etwas. Das Wort will nicht kommen, die Erinnerung verschließt sich, wieder einmal. Der Rest der Freude liegt noch in ihrem Gesicht. Aber die Verzweiflung über dieses ständige Vergessen klopft an. Es ist, als gäbe es jetzt einen kleinen Kampf in ihrem Inneren. Dann schlägt sie sich anerkennend auf die Oberschenkel: "Also eigentlich, ja, meine Beine, die sind immer schnell und gut! Das muss man auch mal sehen!"
Merken die das?
Wie sehr leiden Menschen mit Demenz unter ihrer Krankheit? Oft höre ich, ab einem gewissen Krankheitsgrad merken es die Leute selbst nicht mehr. Ich dachte das auch, bevor ich das erste Mal in einem Altenheim gearbeitet habe und Frau R. kennenlernte. Sie war bekannt im ganzen Haus, eine lustige, manchmal laute Frau. Sie sang und tanzte gerne vor sich hin, umarmte uns Pflegerinnen herzlich, kitzelte uns spielerisch, gab uns die Namen ihrer Schwestern und Brüder. Einmal half ich ihr beim Duschen, sie wusste nicht mehr, wie das geht. Da stand sie vor mir in dem Waschraum, nackt mit nassen, eingeschäumten Haaren und sagte so abgrundtief verzweifelt, wie ich sie noch nie gesehen hatte: "Was ist bloß mit mir los? Irgendwas stimmt doch nicht mit mir! Und ich komme einfach nicht darauf, was es ist."
Es stimmt, dass diese Verzweiflung immer weniger nach außen dringt, je mehr die Krankheit fortschreitet. Die Lebensäußerungen insgesamt werden weniger. Aber diese tiefe Traurigkeit über sich selbst, diese Verlorenheit, die spüre ich immer wieder. Auch bei Frau Paulsen. "Ich habe es wirklich probiert", sagte sie neulich, "aber es geht einfach nicht. Hier bin ich nicht, so wie ich..." Sie zeigt auf sich.
Ein paar Mal schon kündigte sie an, sie würde jetzt gehen. Zu ihrer Mutter, sie wohnten ja zusammen. "Meine Mutti und ich, wir sind so..." Wieder geht es nicht weiter. Wieder scheint es in ihr zu kämpfen. Sie streicht sich mit den Händen fast beschwörend über die Arme, als wolle sie den wohligen Gedanken an diese Zweisamkeit festhalten.
Nicht korrigieren
„Wir müssen lernen, die Weisheit und Würde dieser Menschen zu achten“, sagte die große Demenzversteherin Naomi Feil. Die Gerontologin entwickelte die Methode der Validation. Kernpunkt: Man akzeptiert, dass sich die Dinge für die Betroffenen anders darstellen und begleitet sie in ihren Gefühlen. Heißt: Ich muss Frau Paulsen nicht klarmachen, dass ihre Mutter schon tot ist. Ich sollte erkennen, dass sie sich wünscht, sich geborgen und zugehörig zu fühlen. Vielleicht kann ich ihr ein bisschen dieses Gefühl vermitteln.
Ich freue mich auf heute Nachmittag.