Birgit Dietz, Jahrgang 1961:
Ich habe meine Schwiegermutter als attraktive und kontrollierte Frau kennengelernt, sie war streng mit sich selbst. Wir arbeiteten gemeinsam in dem Architekturbüro, das meinen Schwiegereltern gehörte. Sie war Chefin der Verwaltung, mein Schwiegervater und mein Mann waren dort als Architekten tätig. Ich bin als Architektin eingestiegen, als unser viertes Kind in den Kindergarten kam.
Als ich anfing, fand ich ihre getippte Anweisung für meinen Arbeitsplatz auf dem Schreibtisch: Hinweise zu Müll, Kaffeemaschine, Getränkekasse und eine Liste, in die man seine Arbeitszeiten eintrug. Das hatte ich mir freundlicher vorgestellt, sie hätte mir das ja auch mündlich erklären können. Ich habe dort viele Jahre halbtags gearbeitet, ging mittags nach Hause, um mich um unsere Kinder zu kümmern. Sie gab mir oft das Gefühl, nichts richtig zu machen und dass ich mehr mitarbeiten solle.
Mit etwa 72 ist meine Schwiegermama an Demenz erkrankt. Zunächst versuchte sie, die Krankheit zu vertuschen, um ja die Fassade nicht verrutschen zu lassen. Mein Mann ist dann mit ihr in eine Gedächtnisambulanz gegangen, und nach der Sprechstunde war allen klar, wie es um sie stand. Zwei Jahre später mussten wir uns eingestehen, dass wir die Betreuung nicht mehr schafften. Als sie in ein Altenheim zog, war sie am Anfang sehr rastlos und wollte immer zum Arbeiten in ihr Büro gehen. Wir haben ihr Ordner, Locher, Knipser und Papier gegeben, um sie irgendwie zu beschäftigen. Die Arbeit machte sie froh, aus ihrem "Büro" war sie kaum rauszulocken – sie meinte sogar, als ich sie abholen wollte: "Na, du musst ja wieder Zeit haben – ich muss noch arbeiten."
Früher mochte sie Körperkontakt überhaupt nicht, jetzt hatte sie Lust darauf
Etwa drei Jahre nachdem sie krank geworden war, begann eine neue Phase: Meine Schwiegermutter wurde sehr lebensfroh, manchmal sogar richtig frech. Plötzlich konnte sie es sich gut gehen lassen. Sie aß zum Beispiel mit Genuss Sahnetorte, die hatte sie sich früher immer verboten, um ihre tolle Figur zu halten. Nach dem Essen schleckte sie auch mal den Teller ab. Oder sie umarmte wildfremde Leute. Früher mochte sie Körperkontakt überhaupt nicht, jetzt, glaube ich, hatte sie einfach Lust darauf. Auch von mir hat sie sich dann gern umarmen lassen, das hat mich gefreut.
Es gab auch Situationen, in denen ich mich genierte: Als wir im Café waren, nahm sich meine Schwiegermutter einfach ein Stück Kuchen vom Teller einer Tischnachbarin. Ich musste dann erklären, dass meine Schwiegermutter an Demenz erkrankt ist. So was gehört eben dazu, und mit der Zeit wurde ich entspannter.
Einmal, als ich im Sommer mit ihr rausgehen wollte, musste sie unbedingt ihre Winterstiefel zum schwingenden Sommerrock anziehen, weil sie die hohen Absätze an den Stiefeln mochte. Auf dem Gehweg nahm sie meine Hand, und wir hopsten fröhlich die Straße entlang, wie kleine Mädchen. Schließlich sprach uns eine Passantin an: Das sei doch gefährlich, was wir da tun, die Frau könne hinfallen, und überhaupt, die Winterstiefel . . . "Die spinnt doch", sagte meine Schwiegermutter und lachte lauthals los. Unglaublich, dachte ich, da steht ein Mensch vor mir, der sich am Leben freut und mir zeigt, dass er gern mit mir zusammen ist, mir vertraut, mich mag! Es war, als ob die Mauer, die sie so lange umgab, bröckelte.
Ich sitze an ihrem Bett, mit schlechtem Gewissen
Seit zehn Jahren ist sie nun krank, und die heitere Phase ist vorbei. Es wird jetzt eng für unsere kurze Liebe. Meine Schwiegermutter liegt im Bett und ist kaum noch ansprechbar. Sie erkennt mich nicht mehr. Letztes Jahr an Weihnachten hat sie noch reagiert, als ich eine Kerze angezündet habe, jetzt geht ihr Blick meist ins Leere.
Ich sitze an ihrem Bett, mit schlechtem Gewissen. Darf ich mir wünschen, dass es bald zu Ende geht, ihr Leben? Darf ich hier einfach in mein Handy tippen, so als wäre sie nicht da? Manchmal singe ich ihr etwas vor, "Es wird scho glei dumpa", das ist ein österreichisches Weihnachtslied. Ob sie etwas mitbekommt, weiß ich nicht sicher, mir tut es jedenfalls gut. Wenn sie so reglos daliegt, habe ich das Gefühl, dass sie schon sehr weit weg ist.
Was mir bleibt, wenn sie einmal stirbt, ist nicht die Erinnerung an die strenge, disziplinierte Schwiegermama, sondern an einen Menschen, der auch wunderbar spontan sein und genießen konnte. Mit dieser Erinnerung wird es mir leichter fallen, eines Tages Lebewohl zu sagen.
Protokoll: Franziska Wolffheim