Diese Ecke des Prenzlauer Bergs ist nicht hip. Die Sonne knallt ungefiltert auf die grauen Steinplatten aus DDR-Zeiten. Ich warte auf Nina Böhmer, die junge Berliner Krankenschwester, die ein Buch schrieb mit dem wütenden Titel: Euern Applaus könnt Ihr euch sonstwohin stecken. Am Ernst-Thälmann-Denkmal, hatten wir überlegt, sei ein guter Treffpunkt. Die etwa 15 Meter hohe wie breite Statue aus Bronze und Stein ist unübersehbar. Der von den Nazis ermordete Kommunist hebt seine rechte Faust vor einer wehenden Arbeiterfahne.
Wie zart und schmal Nina Böhmer dagegen wirkt, als sie um die Ecke kommt. Kurzes rotes Kleid, großflächige Tattoos, die glatten hellen Haare zurückgesteckt. Ihr Freund begleitete sie, ein englischer Punkmusiker, wie sie später mit leichtem Lächeln erzählt.
Die junge Wilde?
Die Versuchung ist groß, Nina Böhmer zur „jungen Wilden der Krankenpflege“ zu machen, zum Gesicht einer neuen Bewegung von Pflegern, die nicht mehr alles stillschweigend hinnehmen. Natürlich denkt man auch an Alexander Jorde, den Pflege-Azubi, der in Talkshows und in dem Buch Kranke Pflege immer wieder die Arbeitsbedingungen anprangert. Aber das Bild hakt. Weder kann man wirklich von einer Bewegung sprechen, noch ist klar, welche Rolle die 28-Jährige Brandenburgerin in einer solchen spielen würde. Sie ist schüchtern, sagt sie, es falle ihr nicht leicht, an die Öffentlichkeit zu gehen.
Ihr Weg dahin war dann auch eher ein Versehen: Am 23. März, mitten in der Corona-Krise, schrieb die Krankenschwester auf Facebook "Eigentlich sollten genau jetzt alle Pflegekräfte ihren Job kündigen! (...) Und euer Klatschen könnt ihr euch sonst wohin stecken, ehrlich gesagt … Tut mir leid, es so zu sagen, aber wenn ihr helfen wollt oder zeigen wollt, wie viel wir wert sind, dann helft uns, für bessere Bedingungen zu kämpfen!"
Sie war so gefrustet, sagte sie, und fühlte sich wie Kanonenfutter: Es fehlten Schutzmasken. Die Personaluntergrenze wurde ausgesetzt. Und die Quarantäneregelungen wurden bei Pflegekräften plötzlich ganz locker ausgelegt.
Der Post war eigentlich nur für ihre Freunde gedacht. Er war aber versehentlich auf öffentlich gestellt und ging viral. Er wurde zigtausend mal geteilt, bei Nina Böhmer meldeten sich etliche Pflegekräften, die sich in ihren Worten wiederfanden. Sie hatte offenbar einen Nerv getroffen.
Plötzlich in der Öffentlichkeit
Es kamen Presse- und Interviewfragen, sie sprach mit Journalisten am Telefon, ins Fernsehen wollte sie (noch) nicht. Aber als ein Literaturagent anfragte, ob sie ein Buch schreiben würde, sagte sie Ja. Schreiben, das kann sie.
"Euern Applaus könnt Ihr euch sonstwohin stecken" kam in dieser Woche raus, mit dem Untertitel: "Pflegenotstand, Materialmangel, Zeitnot - was alles in unserem Gesundheitssystem schiefläuft." Es ist eine Mischung aus Erfahrungsbericht und Anklageschrift, persönlich geschrieben und sehr gut lesbar. Eine verzweifelte Liebeserklärung an die Krankenpflege, von einer, die das wirklich ernst meint. Lasst diesen Beruf nicht so vor die Hunde gehen! Das ist ihre Message: Wisst Ihr nicht, wie sehr wir ihn brauchen?
Eine Analyse des Gesundheitssystems, wie es der Untertitel verspricht, ist es nicht unbedingt. Und Lösungen hat Nina Böhmer auch wenige parat. Aber das muss sie auch nicht. Sie hat sich aus der Deckung gewagt, das tun nicht viele Pflegekräfte. Nun geht sie die nächsten Schritte, übt sich darin, in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Letzte Woche gab sie dem Spiegel ein Interview, diese Woche trat sie im Regional-Fernsehen auf. Sie ist nicht DAS Gesicht der Pflege, aber sie zeigt ihres. Und das ist schon viel.