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Christian Braune, der lange in Hamburg als Krankenhaus- und Gefängnisseelsorger gearbeitet hat, ist zurzeit als Vertretungspfarrer in der evangelischen Auslandsgemeinde in Moskau tätig. Regelmäßig schreibt er seinen Freundinnen und Freunden zuhause, was er erlebt und wahrnimmt. Angesichts der aktuellen Eskalation las ich noch einmal, was er uns schon Ende Januar geschrieben hatte:
„Manche von Euch haben in den letzten Wochen gefragt, ob wir glauben, dass es einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine geben wird. Ich erzähle Euch von einem Gespräch mit Victor S., einem ca. 60-jährigen ehemaligen Oberst der Roten Armee und jetzt Verbindungsmann zwischen dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge und einer ähnlichen Einrichtung im russischen Innenministerium. Auf meine Frage, ob es Krieg geben wird, antwortete er: ‚Wir haben im Großen Vaterländischen Krieg unser Land von den Faschisten befreit, wir haben Europa mit dem Sieg über die Nazis die Freiheit geschenkt und wir hätten nach der Einnahme Berlins weitermarschieren und zwei Wochen später am Atlantik stehen können, ohne dass wir eine Gegenwehr hätten fürchten müssen. Und das können wir auch heute! Dabei ist es unwichtig, wie viel das kostet. Wir sind 143 Millionen Russen!‘ Für ihn ist die Ukraine das Kernland Russlands. Kiew heißt ‚die Mutter aller russischen Städte‘. Dort liegt die Wiege der Nation. Sich zu holen, was einem gehört, ist das Recht jedes Menschen und jeder Nation. Auf meinen Einwand, dann seien Straßburg und Metz, Stettin, Danzig und Königsberg deutsche Städte, zuckte er mit den Schultern und schüttelte mit dem Kopf: ‚Ihr habt den Krieg verloren, wir haben ihn gewonnen!‘ Die Armee ist integraler und hochangesehener Bestandteil der russischen Gesellschaft inklusive der Gewalt, die in ihr und durch sie ausgeübt wird. Sie ist zum Kriegführen da (Kasachstan, Südossetien, Moldawien, Donbas und Lugansk). Gewalt ist ein legitimiertes Mittel der Politik sowohl nach innen als auch nach außen. Auf meine Frage, ob Russland sich einen Krieg menschlich und wirtschaftlich leisten kann, lacht er: ‚Es gibt Wichtigeres als das Bruttosozialprodukt. Dann essen wir weniger. Dann sterben wir früher. Das haben wir Hunderte von Jahren getan. Wir weichen nicht zurück.‘ Und wie ist es mit der empörten Reaktion anderer Länder und möglichen Sanktionen? ‚Wer nicht versteht, dass wir im Recht sind, ist nicht unser Freund, sondern unser Feind. Was unsere Feinde sagen, interessiert uns nicht.‘“
Wenn dies eine repräsentative Stimme ist, wie konnte man dann auf Vernunft und Verhandlungen hoffen?
Noch etwas anderes geht mir nach: Für gewöhnlich halten wir im Westen, seien wir einmal ehrlich, Russland für ein schwaches Land und die Putin-Diktatur für das sichtbare Zeichen dieser Schwäche. Der Gesprächspartner von Christian Braune aber würde es umgekehrt sehen: Der Westen ist schwach, und unsere Ausrichtung auf Frieden ist das sichtbare Zeichen dieser Schwäche.
Wie kann man da auf etwas hoffen?
Mir kommt das kurze Gedicht „Leitspruch“ in den Sinn, das Oskar Loerke 1940 geschrieben hat:
Jedwedes blutgefügte Reich
Sinkt ein, dem Maulwurfshügel gleich.
Jedwedes lichtgeborne Wort
Wirkt durch das Dunkel fort und fort.
P.S.: Über „Die Macht der Barmherzigkeit“ und die Frage „Was heißt es, diakonisch zu arbeiten?“ spreche ich mit dem Psychotherapeuten und Diakoniehistoriker Michael Wunder von der Evangelischen Stiftung Alsterdorf (Hamburg), und zwar in einer neuen Folge meines Podcasts Draußen mit Claussen.