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Unabhängige Fachleute haben die Disziplinarverfahren, die seit den 1980ern in der damaligen Nordelbischen Landeskirche wegen sexualisierter Gewalt durchgeführt wurden, untersucht. Es ging um 14 beschuldigte Pastoren und Fehlverhalten/Straftaten im Dienst oder im häuslichen Bereich. Natürlich waren dies nur die bekannten Vorfälle, von einer höheren Dunkelziffer ist auszugehen. Die Studie hat versucht, die Vorwürfe selbst aufzuklären, die Täterstrategien zu analysieren und die Systeme (Kirchengemeinde, Jugendgruppen, Seelsorge) zu erforschen, die Missbrauch möglich machen. Zudem sollte das Agieren der Vorgesetzten und des Kirchenamts bewertet werden, und es wurden Empfehlungen ausgesprochen. So wurde das Exemplarische mit dem Systemischen verbunden.
Ich war damals mittelbar mit dieser Untersuchung befasst und erinnere mich genau, wie aufwühlend, anstrengend und notwendig sie war. In meiner Kirche hat sie viel ausgelöst: Zum Beispiel wurde ein Präventionsgesetz verabschiedet, eine unabhängige Ansprechstelle eingerichtet, wurden und werden Gespräche mit Betroffenen geführt. Auch haben andere kirchliche Akteure sich davon anregen lassen.
Aber eine Erwartung hat sich nicht erfüllt. Ich hatte damals gedacht, dass andere Akteure – aus der katholischen Kirche, der Schulbehörde, den Sportvereinen und Musikschulen, der Psychotherapie etc. – auf uns zukämen. Schließlich betrifft dieses Thema nicht nur uns. Ich hatte gedacht, dass wir unsere Erfahrungen austauschen und voneinander lernen könnten. Unsere Studie war ja ein allererster Versuch. Aber nichts dergleichen geschah. Es gab ein für unsere Verhältnisse großes Medien-Echo, vielleicht drei Wochen lang. Dann nichts mehr. Heute haben selbst kompetente Journalisten noch nie davon gehört. Was ist der Grund für das öffentliche Desinteresse: Scham, Abscheu oder Angst?
Inzwischen bereitet die Evangelische Kirche in Deutschland auf zwei Wegen systematische Untersuchungen vor, die den nicht wenigen Einzelstudien zu Missbrauch in Kirche und Diakonie ein Rahmen geben sollen. Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse.
Und dann wurde in dieser Woche eine weitere Einzelstudie aus meiner alten Wirkungsstätte veröffentlicht. In den 1970er und 1980er Jahren erlitten im Margaretenhort, einer diakonischen Einrichtung für Kinder und Jugendliche in Hamburg-Harburg, mindestens elf Kinder und Jugendliche massive Gewalt. Nicht Mitarbeiter, sondern männliche Mitbewohner und Jugendliche von außerhalb beschimpften, schlugen, nötigten und vergewaltigten sie. Wie das geschehen konnte und wieso den Opfern seinerzeit nicht geglaubt wurde, hat die Historikerin Ulrike Winkler in der Studie „Kein sicherer Ort“ untersucht. Sie beleuchtet Faktoren und Strukturen, die eine Unkultur des Wegschauens und Verschweigens entstehen ließen. Dazu sichtete sie Akten, erforschte die historischen Bedingungen und führte Interviews mit Betroffenen, Mitarbeitenden, Behördenvertretern und Menschen, die seinerzeit mit dem Margaretenhort verbunden waren. Die Fälle wurden 2016 bekannt. Fünf Jahre hat diese Studie gebraucht. Ist das lang? Mir scheint, dass man sich diese Zeit nehmen muss, wenn man seriös arbeiten, Betroffene einbeziehen und die richtigen Schlussfolgerungen ziehen will.