jhc
Bekennen und Berichten
Anfang der vergangenen Woche ist unsere Nachbarin Navina Sundaram mit 77 Jahren gestorben. Wir haben sie spät, nach einem Umzug als neue Nachbarin, kennengelernt. Nur langsam bekamen wir mit, was für eine – ja, epochale Gestalt sie war, nämlich eine der beeindruckendsten Journalistinnen der deutschen Fernsehgeschichte. Sie hat darum kein Aufhebens gemacht. Zum Glück kann man ihre wichtigsten Filme auf einer Website nachsehen. Ich stöbere, staune und wünschte, ich hätte sie früher kennengelernt.
(Berlin) 11.02.16; Dr. Johann Hinrich Claussen, Portraet, Portrait; Kulturbeauftragter des Rates der EKD, Leiter des EKD-Kulturbueros, evangelischer Theologe Foto: Andreas Schoelzel/EKD-Kultur. Nutzung durch und fuer EKD honorarfreiAndreas Schoelzel
05.05.2022

Navina Sundaram war die erste Journalistin nicht-deutscher Herkunft, die im deutschen Fernsehen große Sendungen produziert und präsentiert hat, zum Beispiel im Weltspiegel und bei Panorama. Im Januar noch führte Marietta Schwarz ein einstündiges Radio-Interview mit ihr, ein einzigartiges Zeitzeugnis und eine faszinierende Lebensgeschichte.

Navina Sundaram stammte aus einer weltläufigen, geistreichen indisch-ungarischen Familie. Ihre Tante Amrita Sher-Gil gilt als bedeutendste bildende Künstlerin der klassischen Moderne in Indien. Ihr Bruder Vivan Sundaram ist ein global anerkannter Künstler. Geboren wurde sie 1945 in Indien. Der Geist des säkularen Aufbruchs unter Staatsgründer Jawaharlal Nehru prägte sie. Menschenrechte, Demokratie, postkoloniale Entwicklung waren ihre Herzensanliegen.

Eher durch Zufall stieg sie 1963 im deutschen Fernsehen ein, wo sie beim NDR ihre professionelle Heimat fand. Die Liste ihrer Sendungen und Reportagen ist lang und vielfältig. Bemerkenswert ist, wie sie Auslands- und Inlandsberichterstattung verband. Was sie über Dekolonialisierung und fortwährende Ausbeutung des globalen Südens zu berichten hatte, spiegelte sich in dem, was sie über die Situation von Migranten in Deutschland mitteilte. Man kann von ihr lernen, wie sich im Journalismus eine engagierte Haltung mit einer präzisen Professionalität verbinden lässt. "Bekennen" und "Berichten" waren für sie keine Gegensätze. Sie berichtete über Dinge, die ihr ein Anliegen waren, verletzte dabei aber nicht die Regeln gewissenhafter Recherche und publizistischer Fairness.

Ein Journalistenfreund, der sie viel länger und besser kannte als ich, schrieb mir in der vergangenen Woche: „Navina war ein Solitär im Fernsehwald. Sie war immer unbequem, ihr Kenntnisreichtum unendlich, ihr Verstand schmerzhaft scharf und ihr Sinn für Humor half, die Welt besser zu ertragen. Sie hat so viel erkämpft und erreicht im Journalismus, als dunkle Frau unter weißen Männern, aber darauf angesprochen werden, wollte sie nicht, dafür bewundert werden schon gar nicht.“

Am Ende ihres Lebens band eine lange, schwere Krankheit diese Welt-Journalistin an ihre Hamburger Wohnung. Dann ist sie gestorben, eine aufrechte Frau.

Es ist ein Trost und eine Freude, dass ihre wichtigsten Arbeiten inzwischen auf einer eigenen Website präsentiert werden. Sie heißt "Die Fünfte Wand" und trägt den feinen Untertitel "Innenansichten einer Außenseiterin oder Außenansichten einer Innenseiterin". Man muss sich kurz anmelden und kann sich dann – gar nicht satt sehen. Man sieht eine anfangs noch ganz junge indische Frau, die in makellosem Deutsch die interessantesten Themen vorstellt. Das Setting ist manchmal eigentümlich steif (wie das früher eben war im deutschen Fernsehen), sie selbst aber wirkt immer noch höchstlebendig. Wehmütig wird man manchmal, denn damals gab es noch den Mut, dem Publikum etwas zuzumuten, und dafür nahm man sich Zeit. Zum Beispiel eine Sendung über ein emanzipatorisches Theaterprojekt in Indien – eine Dreiviertelstunde! Herrlich oder schrecklich – je nach Perspektive und Stimmung – ist „Der internationale Frühschoppen“ – eine westdeutsche TV-Institution (alle rauchen und trinken Wein): drei ältere, hellhäutige Männer versuchen drei jüngeren Frauen die Welt zu erklären, kriegen aber von Navina Sundaram und ihren Mitdiskutantinnen ordentlich eingeschenkt.

Ich habe viel Neues gelernt, zum Beispiel aus einer Sendung für „Extra Drei“ von 1978. Darin ging es um den Freikauf von politischen Gefangenen aus der DDR. Navina Sundaram präsentiert die Preise, die die DDR für ihre Gefangenen ausrief. Für einen Arbeiter forderte das sozialistische Regime von der Bundesrepublik 30.000 DM, für einen Lehrer 50.000 DM und für einen Professor bis zu 160.000 DM. Nur für Vertreter meines Berufsstandes forderte man nichts: Pfarrer gab die DDR gratis ab.

Die Kommentarfunktion ist nur noch für registrierte Nutzer verfügbar. Um einen Leserkommentar schreiben zu können, schließen Sie bitte ein Abo ab, schreiben Sie uns eine Mail an leserpost@chrismon.de oder diskutieren Sie auf Instagram, Facebook und LinkedIn mit.

Kolumne

Johann Hinrich Claussen

Auch das Überflüssige ist lebens­notwendig: Der Autor und Theologe Johann Hinrich Claussen reist durch die Weiten von Kunst und Kultur