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Urplötzlich bei der Armenspeisung ist die Erinnerung da: An Ratatouille, den Trickfilm von 2007 um die Ratte Remy, die kochte. In dem Film, den anzusehen damals ein ungetrübtes Familienvergnügen war, besucht der gefürchtete Restaurantkritiker Anton Ego am Ende das Pariser Nobelrestaurant, in dem das sympathische Nagetier zum heimlichen Chefkoch aufgestiegen ist. Dort bekommt er das titelgebende Gericht kredenzt. Bereits der erste Bissen katapultiert ihn in seine Kindheit zurück, wo seine Mutter ihm eine dampfende Schüssel des französischen Gemüseeintopfs vorsetzt und den Sohn so glücklich macht.
Grüne Schmorbohnen wie bei Oma
Mein unvermitteltes Erinnern an die Filmszene und der damit verbundenen herzerwärmenden Aufwallung des verflossenen Familien-Couch-Kakao-Bademantel-Fernseh-Idylls lösen grüne Schmorbohnen aus. Ich esse sie in einem offenen Pfadfinderzelt auf einer Bierbank. Meine Oma kochte dieses Gericht. Sie hatte einen Nutzgarten, dessen Erträge den Speisezettel bestimmten. Bohnen gehörten dazu. Allerdings nicht näherungsweise zu meinen Lieblingsspeisen. Da aber meine Oma zu meinen Lieblingsmenschen zählte, wiegt die gustatorische Wertschätzung in dem Fall nicht so schwer.
Tätowierte Grillmeister und Landfrauen
Was wir in den ersten Stunden und Tagen nach dem Hochwasser aßen, weiß ich nicht mehr, ich glaube Kekse, Knäckebrot und Schokolade. Essbares, was über der Wasserlinie lagerte. Sehr bald nachdem die Republik Kenntnis von der misslichen Lage an der Ahr genommen hatte, kamen im Tross der Helfer auch fröhliche, schräge und selbstlose Caterer: Streetfood-Köche, tätowierte Grillmeister, Landfrauen mit Töpfen im Kofferraum von alten Kombis, norddeutsche Bäcker mit Bollerwagen. Armenspeisung wurde in meinen Bezügen zum geflügelten Wort für die partyähnliche Versorgung von Betroffenen und Helfern: Alle waren dreckig und abgeranzt, die meisten irgendwo verpflastert, Kleidung, die üblicherweise zum Auswärtsessen gehört, war nur an Funktionären oder Politikern aus trockenen Gebieten zu finden.
Wir tauschten Geschichten aus, wir steckten voller Adrenalin
Es gab von allem reichlich und umsonst, es ging diszipliniert zu, die Stimmung war zuvorkommend und gut. Wir tauschten Geschichten aus, egal ob Freunde, flüchtige Bekannte oder Fremde. Die Geschichten waren tragisch, traurig, furchtbar, doch wir steckten voll Adrenalin. Bei Steaks aus dem Smoker, Bergen von frischem Salat und knusprigen Bratkartoffeln hörten und erzählten wir, nie zynisch, nie gleichgültig, aber doch wie über einen Film, der gerade lief. Wir wünschten uns Kraft und gingen weitermachen. Seit irgendwann verpflegt das Rote Kreuz am Ahrweiler Bahnhof nicht mehr, Landfrauen und Smoker sah ich keine mehr. Doch ich höre von Plätzen, die sich den Anfangszauber bewahren konnten, in Dernau, Walporzheim, oder in Ahrweiler auf dem Campingplatz: Legendäre Orte, die den Anwohnern Kneipe und Therapiezentrum zugleich sind.
Kneipe und Therapiezentrum zugleich
Das Adrenalin hat sich ausgeschlichen. Versorgungswege sind wieder da, nicht die gewohnten, aber es gibt sie. Die plötzlich Obdachlosen haben Obdach gefunden. Die Soforthilfe ist zu Ende. Nahrungsaufnahme kann sich wieder ins Private zurückziehen. Doch wer hört dann die Geschichten? Wer teilt dort die Erfahrung der schwindenden Kräfte? Die Sorge vor der langsam einsetzenden Kälte? Der Ohnmacht vor der Übermacht?
Die Kirche hat ihr Pfadfinderzelt dort aufgebaut, wo das Wasser nicht war. Sie will einladen zum Essen und Trinken. Die Opfer und die, die deren Not ansehen und aushalten müssen.
Die Dame, die mir lächelnd die Bohnen serviert, verlor vor dem Hochwasser Sohn und Vater, beim Hochwasser ihr Zuhause. Sie kommt regelmäßig helfen, organisieren und Essen verteilen, damit weiter Geschichten erzählt und Erfahrungen geteilt werden können: Liebe geht schon auch durch den Magen.