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Zweiundzwanzig gemeinsame Jahre kann man nicht so einfach wegwerfen. Zweiundzwanzig Jahre dauerte diese Ehe, die man landläufig als glücklich bezeichnen könnte. Und dann das: Die Frau steht mit dem Koffer in der Tür. Trennung.
Vorausgegangen war ein bewegtes Familienleben. Es gibt drei Kinder, die im Abstand von wenigen Jahren auf die Welt kamen. Die Frau managte die Familie, der Mann ging arbeiten. Als die Kinder selbstständiger wurden, fand die Frau, jetzt dürfe auch sie sich einmal etwas gönnen. Die esoterischen Seminare, die sie besuchte, waren nicht nach dem Geschmack ihres Mannes. Als seine Frau eine Ausbildung zur Reiki-Meisterin begann, stiegen die Ausgaben. Mehr als 10000 Euro kamen zusammen. Und auch sonst änderte sich einiges: Arbeiten im Haushalt blieben liegen. Die Zeiten ihrer Abwesenheit wurden länger. Der Essensplan änderte sich.
Der Mann sah sich als stabilisierendes Element der Familie. Er beruhigte die Kinder und vor allem sich selbst. Grundsätzlichen Gesprächen mit seiner Frau ging er allerdings aus dem Weg. Sie auf ihre Seminare zu begleiten weigerte er sich, obwohl sie ihn mehrmals darum bat. Nach zwei Jahren waren die beiden so weit auseinander, dass sie nicht mehr über ihre verschiedenen Lebensvorstellungen sprechen konnten. Er hatte ihren Wunsch unterschätzt, ihr Leben zu verändern und auch sonst einiges falsch gesehen.
Wirtschaftlich gut gestellte Frauen am Ende der Familienphase, so etwa 40 bis 50 Jahre alt, könnte man als "typische" Konsumentinnen esoterischer Angebote bezeichnen. Sie unterscheiden sich deutlich von den Frauen der nächstälteren Generation, den etwa 60-Jährigen. Diese hatten in ihren jüngeren Jahren oft keine andere Wahl, als die Rolle der Familienfrau zu übernehmen und sie dann beizubehalten. Sie gaben sich meist zufrieden mit bescheidenen Möglichkeiten, ihre im Familienalltag vernachlässigten Interessen zu entfalten. Das konnten Vorträge und Diskussionsabende bei den Landfrauen, ein Theaterbesuch oder eine Wochenend-Tagung sein. Solche kleinen Ausflüge in andere Erlebniswelten versöhnten sie wieder mit ihrer Hausfrauenrolle, die viele zwar als undankbar, aber letztlich als sinnvoll empfanden.
Frauen, die heute etwa 40 bis 55 Jahre alt sind, fügen sich nicht mehr so selbstverständlich in die Lebensrolle der Familienfrau. Sie übernehmen ihre Aufgaben für eine bestimmte Zeit, weil sie heiraten und Kinder haben wollen. Doch später, oft erst nach 20 Jahren Arbeit für Mann, Haus, Kinder, Eltern, Geschäft und Garten, spüren sie, dass ihre persönlichen Bedürfnisse zu kurz gekommen sind. Sie wollen nicht mehr diejenigen sein, die "funktionieren", die nur sorgen und nähren, sondern sie haben eigene Ansprüche ans Leben. "Die Suche nach dem Lebenssinn", so schreibt der Psychologe und Journalist Heiko Ernst in der Zeitschrift "Psychologie Heute", "wird besonders in Übergangsphasen des Lebens bedeutsam." Um die vierzig ist alles wieder da: "das Streben nach innerem Frieden, nach Konzentration auf das Wesentliche, Meditation und spirituelle Suche. Man wird offener für Mythen, geht häufiger in sich".
Frauen nach der Familienphase fragen heute seltener danach, wo sie sich ehrenamtlich engagieren können. Die öffentliche Anerkennung durch ein Ehrenamt war für ihre Mütter noch ein Ausgleich zu ihrer fast unsichtbaren Rolle als Familienfrau. Die Frage von heute lautet: Was brauche, was benötige, was will ich? Unter der Vielzahl esoterischer Angebote gibt es viele, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind.
Keine weltanschauliche Richtung passt sich so geschickt den Bedürfnissen ihrer Kundinnen an wie die esoterische Freizeit-, Kultur- und Gesundheitswelt. Auf dem unüberschaubaren Feld der Esoterik im wörtlichen Sinn eigentlich eine Geheimlehre über die Gesetzmäßigkeiten des Kosmos finden vor allem Gesundheitsangebote einen breiten Zuspruch, und dort vor allem die Wirkung von Bachblüten und Edelsteinen, von Aroma- und Reinkarnationstherapien.
Es scheint viele Frauen nicht wirklich zu stören, dass diese Angebote viel Geld kosten. Und das hat einen nahe liegenden Grund: Als bezahlende Kundinnen dürfen sie Ansprüche stellen, ohne für ihre Erfüllung dankbar sein oder um die Anerkennung ihrer Bedürfnisse betteln zu müssen. Auch viele Ehemänner nehmen diese Kosten in Kauf, einige von ihnen sicherlich deshalb, weil sie instinktiv spüren: Die esoterischen Interessen ihrer Frauen hängen zum Teil mit der ungerechten Verteilung der Familienaufgaben zusammen. Andere Männer merken das erstaunlich spät. Zu spät, um richtig zu reagieren: nämlich die familiären Rollen neu festzulegen.
Die "esoterische Konversion" ist der Ernstfall in der Arbeit der Beratungsstellen nicht nur der Kirchen. Eine Konversion zertrennt das Leben in ein Vorher und ein Nachher: hier das frühere Leben mit all seinen Belastungen und seiner inneren Leere, dort das neue Leben, in dem vieles besser zu werden verspricht. Eine solche Konversion macht eine inhaltliche Kritik schwierig, denn wer Auskunft über den Seitenwechsel verlangt, macht sich leicht verdächtig, die alten, als unbefriedigend empfundenen Frauenrollen wieder etablieren zu wollen.
Nach der esoterischen Konversion erscheint das Leben als gradliniger, aufsteigender Weg, auf dem es keine Abwege und Zufälle mehr gibt. Widerstände und Schwierigkeiten gelten als Entwicklungschance, als weitere Stufen auf dem Weg zum wahren Selbst. Was Meister und spirituelle Lehrerinnen raten, scheint aus einem geheimen Weisheitsschatz zu stammen. Oft führt eine esoterische Konversion zum Bruch mit alten Freunden und Weggefährten. Mit neuen Freunden verbinden sich Konvertiten oft nur für eine ganz bestimmte Zeit, so lange nämlich, wie sie von Nutzen für das eigene innere Wachstum scheinen. Es kommt alles darauf an, das persönliche Ziel zu erreichen: die Erfahrung des Göttlichen in sich selbst.
Nicht wenige Familienfrauen erleben sich als macht- und einflusslos. Man erwartet von ihnen, dass sie auf alle Anforderungen der Familie eingehen. Wenn die Kinder später ihre eigenen Wege gehen, entfällt ihre wichtigste Rolle. In dieses Vakuum stoßen die Versprechungen der Esoterik: Frauen werden als Subjekt ihres Handelns aufgewertet. Sie werden wieder als einzigartige Personen gesehen, wertvoll und wichtig, auch ohne anderen nützlich zu sein. Die ersehnte Botschaft an sie heißt dann schon einmal (hier beispielhaft aus einem "Life-Channeling" mit "kosmischen Wesen" in Zürich zitiert): "Meine Liebe, du hast in deinem Leben schon vielen gedient... Du bist sensitiv begabt, du musst dich selbst mehr lieben."
Während Frauen ab vierzig häufig zu hören bekommen, dass ihre beste Zeit vorbei sei, begegnet ihnen in der Esoterik eine andere Botschaft: Sie stehen am Beginn nahezu unbegrenzter Entwicklungsmöglichkeiten. Während die Chancen vieler Frauen auf einen Wiedereinstieg ins Berufsleben eher schlecht aussehen, bieten verheißungsvolle Fortbildungsmöglichkeiten und Qualifizierungen neue Perspektiven.
Schon weil vergleichbare kirchliche Angebote rar sind, erscheinen esoterische als nahe liegend. Hier heißt es nicht, sich mit sperrigen religiösen Texten oder vielschichtigen kirchlichen Überlieferungen auseinander zu setzen. Vielmehr geben viele spirituelle Lehrer ihr Wissen in kleinen, bekömmlichen Happen weiter. So leicht machen es ernsthafte Anbieter den Ratsuchenden nicht. Sie spiegeln nicht nur deren eigene Wünsche, sondern sie machen ihnen auch ihre Grenzen und ihre dunklen Seiten bewusst.
In Beratungsgesprächen zeigt sich: Die esoterischen Rollenzuschreibungen für Frauen und Männer unterscheiden sich zwar erkennbar von den überlieferten der bürgerlichen Kleinfamilien, doch sie garantieren letztlich nicht unbedingt eine freiere Entwicklung der Frauen. Denn dazu wäre es wichtig, dass die Erfahrungen der Frauen mit ihren ganz realen gesellschaftlichen Widersprüchen hinterfragt würden. Statt Einfluss über ihren bisherigen familiären Kreis hinaus zu gewinnen, bekommen Frauen eine Beschäftigungstherapie angeboten, die sie oft weiter von der Lösung ihrer realen Probleme entfernt und dadurch handlungsunfähig macht. Ihrem Ego kann dies eine Weile wohl tun, doch nicht in jedem Fall bringt es sie weiter.
Der bessere Weg für Frauen in der Familienphase ist, von Anfang an auf eine Erweiterung ihrer Erfahrungen zu setzen. Familienfrauen sind stark und kreativ im Einsatz für andere. Sie müssen diese Kraft auch für sich selbst einsetzen. Manche Verbände, Institutionen und Kirchengemeinden sind bereit, auf die veränderten Bedürfnisse der Frauen einzugehen. Andere müssen erst darauf gestoßen werden. Familienfrauen können mehr als Kaffee kochen. Sie wollen mit ihren vitalen Bedürfnissen und ihren Entwicklungsmöglichkeiten ernst genommen werden.