Sendepause. Sonntagsruhe. Siesta. Solche festen Auszeiten sterben langsam aus, denn wir sind immer online. Der moderne Mensch muss sie selber setzen: die Pause
Tim Wegner
07.10.2010

Servus, lebe wohl ­ es gilt einem weiteren Auswanderer aus Deutschland nachzuwinken: dem schönen Wort "Kaffeepause", das der Deutsche Sprachrat in die Liste der "ausgewanderten Wörter" aufgenommen hat. Davon gibt's schon mehr ­ denn längst spricht die Russin mühelos die deutsche Vokabel "Butterbrot" aus, der Amerikaner schätzt die schnelle "Autobahn" und die intellektuelle Französin das "Leitmotiv".

Sendepause, Schaltpause, Funkstille

Jetzt haben also die Finnen der "Kaffepaussi" Asyl gewährt, und das ist doch sehr beruhigend. Denn unsere deutsche "Kaffeepause" ist nicht nur als Wort ausgewandert ­ nein, die ganze Pause schleicht sich davon. Zumindest die gesetzlich festgelegte, tarifvertraglich vereinbarte Pause für alle von 12 Uhr bis 12.30 Uhr in der Kantine ­ die gibt's nur noch in ganz wenigen Betrieben. Ebenso wie die Sendepause, die Schaltpause, die Funkstille. Selbst die Sonntagsruhe für Läden und Lastwagen ist bedroht. Wenn sie nicht so unsichtbar, so still und nixig wären, könnte man sie glatt ausstellen im Bonner Haus der Geschichte: Pausen, die diese Republik beim Aufbau begleitet haben und uns unterwegs still und leise verloren gegangen sind.

In Finnland aber werden sie bestimmt gut aufpassen auf unsere Kaffeepause. Die Finnen sind große Pausen-Macher. Will der deutsche Unternehmer ein Geschäft machen in Helsinki, bekommt er vorher einen Crashkurs in interkulturellem Benimm: Unterbrechen Sie nie die Pause eines Finnen! "Eine Diskussion besteht aus einer Abfolge von Monologen, in denen erst nach einer längeren Pause auf die Argumente des Vor- oder sogar Vorvorredners eingegangen wird", so steht es in einer Handreichung zur Außenwirtschaftsförderung des Auswärtigen Amts. Selbst in der Kirche bringt der Finne es fertig, eine Stunde lang gar nichts zu sagen, das nennt er einen "stummen Gottesdienst".

Unterbrechen Sie nie die Pause eines Finnen!

Und es kommt noch besser: Im Sommer machen die Finnen überhaupt Pause. Von Anfang Juni bis Mitte August sind nicht nur die Schulen geschlossen. Selbst das führende Wirtschaftsmagazin "Talouselämä" erscheint nach dem Mittsommernachtsfest einfach zwei Monate lang gar nicht. "In dieser Zeit", so das Auswärtige Amt, "treffen Sie in Firmen und Behörden praktisch keine Entscheider mehr an." Was offenbar weder den Schülern schadet noch den Firmen ­ Finnland ist bekanntlich PISA-Sieger. Und die Wirtschaft boomt.

Und was macht der Deutsche? Exportiert nach Finnland seine Kaffeepause, importiert aus Finnland so viele Nokia-Handys wie sonst niemand ­ und quasselt pausenlos. In einem Weblog (eingewandertes Wort für ein Tagebuch im Internet) mit dem schönen Namen "Elchfrikadelle" tauschen Deutsche sogar Tipps aus, "wie man in Finnland eine Gesprächspause überbrückt". Denn das hält der Mitteleuropäer nicht aus: Pause machen. Den Mund halten. Keine Entscheider antreffen.

Der Deutsche möchte pausenlos entscheiden

Der Deutsche möchte gerne pausenlos entscheiden. Zwischen der Flatrate von O2 und der von E-Plus, zwischen Urlaub auf den Kanaren und Urlaub in den Alpen, zwischen demnächst 180 Fernsehkanälen und 18 Sorten Lattemacchiatohalbfett bei Starbucks Coffee. Wo alles immerzu möglich ist, sind Pausen nicht vorgesehen.

Dabei war sie in der Geschichte der Deutschen eine große Errungenschaft: die Pause, tarifrechtlich zugesichert. Von Beginn der Industrialisierung an stritt die Arbeiterbewegung für das Recht auf Pausen. Zunächst vergeblich. Im Bergbau und in den Fabriken war zwölf Stunden arbeiten am Stück die Regel, sieben Tage die Woche. Viele internationale Kongresse forderten vergeblich den arbeitsfreien Sonntag. Ein Berliner Sanitätsrat beklagte Mitte des 19. Jahrhunderts die Folgen dieser Ausbeutung: "Der auf den letzten Rest abgespannte, auf den letzten Tropfen ausgetrocknete Körper gleicht einem Fass ohne Boden."

Gesetze zur Arbeitszeit gab es erst in der Weimarer Republik und das Recht auf feste Pausen erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Wirtschaft blühte auf, und im Wettstreit mit dem Sozialismus im Osten Deutschlands musste auch die soziale Marktwirtschaft beweisen, dass der Kapitalismus ein "menschliches Antlitz" habe. Ihre beste Zeit erlebte die Pause zweifellos in den fetten Siebzigern: Da hatten Mercedes-Arbeiter sogar eine "Steinkühler-Pause", benannt nach dem früheren IG-Metall-Chef.

Inzwischen gelten längst ganz andere Rhythmen in der Arbeitswelt. Flexibilität ist das Zauberwort, 24/7 der neue Anspruch: möglichst rund um die Uhr sollen Maschinen ausgelastet sein.

Flexibilität ist das Zauberwort, 24/7 der neue Anspruch

Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht? Der Gewerkschafter mag sich nicht so recht entscheiden. "Ein goldener Käfig" seien die festen Arbeitszeiten gewesen, sagt Arbeitszeitforscher Hartmut Seifert von der Hans-Böckler-Stiftung: einengend zwar, aber auch schützend vor der Willkür des Arbeitgebers. Jetzt sei der Mensch entlassen in die "riskante Freiheit", und der Forscher Seifert weiß schon: Nicht für alle ist diese Freiheit das Richtige. Er hat Betriebsräte befragt, wie die Leute zurechtkommen mit den flexiblen Arbeitszeiten. Die meisten waren zufrieden ­ aber es gab auch Klagen. Aus der Bauwirtschaft zum Beispiel, wo "Flexibilität" keineswegs heißt, dass der Maurer neuerdings ausschlafen und eine Stunde später zur Baustelle kommen darf. Sondern dass er bei schönem Wetter auch mal zwölf Stunden kloppen muss.

Denn natürlich sind die flexiblen Arbeitszeiten nicht aus purer Menschenfreundlichkeit eingeführt worden. Wie bei VW, wo sie in den Neunzigern die "atmende Fabrik" erfunden haben: Da richtet sich die Produktion flexibel danach, wie viele Menschen wann einen VW-Golf oder einen Touran bestellen. Arbeiterinnen, die abends auf Abruf länger am Band stehen sollten, klagten, dass sie leider nach 18 Uhr keinen "atmenden Kindergarten" und keinen "atmenden Supermarkt" zur Verfügung hätten. Inzwischen weiß man, dass zumindest bei VW die Betriebsräte mit großer Umsicht für ihre persönliche Regeneration sorgten und sich Pausen mit brasilianischen Prostituierten gönnten. Aber der Rest der Belegschaft? Macht wenigstens mittags Pause. Aber nicht zu lange: "Die Mittagspause möglichst zusammenquetschen, dafür früher nach Hause", das sei das vorherrschende Muster in Großbetrieben, sagt Arbeitszeitberater Michael Weidinger aus Berlin. Selbst in Spanien, wo früher zwischen 13 und 17 Uhr außer Siesta gar nichts ging, passt man sich der globalisierten Welt an: Die Börse läuft rund um die Uhr, die Telefone auch, eine lange Mittagspause kann sich die Dienstleistungsgesellschaft gar nicht mehr leisten.

Bloß nicht zu lange schlafen, bloß nicht zweckfrei die Zeit verdaddeln

Und selbst die knappe Zeit, die sich noch Mittagspause nennt, wird oft verplant. Da werden Rückenschulungen angeboten, Crashkurse in Chinesisch und in ganz fortschrittlichen Betrieben ein "Power-Napping". Ein Mittagsschlaf, der aber nur zehn Minuten dauern darf, sonst wird er uneffektiv. Bloß nicht zu lange schlafen, bloß nicht zweckfrei die Zeit verdaddeln.

Wo gibt es das eigentlich noch, einfach fünf Minuten verplempern? Im Auto, wenn die Ampel auf Rot schaltet oder eine Bahnschranke sich neigt? Da soll man, sagt der Gynäkologe, diese Beckenbodenübungen machen, die Frauen ab 40 dringlichst empfohlen werden. Oder in Gedanken den Einkaufszettel rauf und runter memorieren, damit das Hirn nicht altert. Oder den Bauch einziehen, 20 Sekunden anspannen und wieder lösen, damit die Muskulatur gestärkt wird. So oft kann eine Ampel gar nicht rot sein, dass man das alles schafft.

Oder am Gepäckband am Flughafen, wenn man auf seinen Koffer wartet. Da sieht man jetzt immer häufiger Menschen mit schmerzverzerrtem Gesicht, für die man am liebsten den Flughafen-Seelsorger rufen möchte. Dabei haben auch sie nur einen dieser Ratgeber gelesen, die Tipps geben für angeblich entspannteres Fliegen: vor und nach dem Flug. Wo man früher sinnlos vor sich hin gestiert hat, soll man jetzt die Stirn kräuseln, die Augen zusammenkneifen, die Zähne zusammenbeißen und wieder loslassen. So ist auch diese Pause sinnvoll genutzt.

Ganz ins Reich des Museums gehören Pausen, die den Medien geschuldet waren. Im Fernsehen erst die Eurovisions-Melodie hören und dann warten, bis die Sender ­ zum Beispiel vor dem Grand Prix Eurovision de la Chanson ­ auseinandergeschaltet werden. Das erzählen Sie mal einem Kind von heute, dann können Sie aber auch gleich vom Krieg erzählen.

20 Minuten im Klassenzimmer bleiben und gar nichts machen

Obwohl gerade die Kinder sehr wohl wissen, dass sie Pausen brauchen. Und zwar nicht die von schlauen Pädagogen verordneten "bewegten Pausen". Manche Kinder stellen schon morgens beim Frühstück erleichtert fest: "Es regnet." Dann ist nämlich nach der dritten Stunde "Regenpause", zu Deutsch: Sie werden nicht im Schulhof zu gruppendynamischen Spielen angehalten. Sondern dürfen tatsächlich 20 Minuten im Klassenzimmer bleiben und gar nichts machen. Ist das super.

Die schönsten Pausen sind nämlich nicht lila, die schönsten Pausen sind weiß. Leer. "Immer wenn das Telefon nicht klingelt", sagte Elias Canetti, "weiß ich, dass es für mich ist." Kann man nachhelfen, klar. In den USA gibt es angeblich schon Computer, die keine E-Mails empfangen können. Und in teure Kalendersysteme kann man neben wichtigen Terminen auch regelmäßige Pausen eintragen. Pause nach Kalender, das hört sich ungefähr so prickelnd an wie Sex nach Kalender ­ in beiden Fällen ist es allemal lustiger, den Kalender wegzuwerfen und das Handy auszuschalten.

Denn Pausen kommen nicht mehr von allein zurück. Pausen muss man sich schaffen. Abschalten. Auszeit nehmen. Gar nicht so einfach, weiß Arbeitszeitberater Michael Weidinger: "Viele Menschen müssen erst noch lernen, sich abzugrenzen von der Arbeit." Früher war es einfach, sagt er: "Mein Vater nahm am Wochenende so viel Arbeit mit, wie in eine Aktentasche passte." Der Sohn ist permanent online, auch am Abend, auch am Sonntag. Genug Arbeit gibt's schließlich immer.

Ein Revival für die Pause

Und gerade deshalb steht der Pause ein Revival bevor. Möglichst schnell die Arbeit runterreißen, dann ab in die Freizeitgesellschaft ­ das war gestern. Wir alle müssen künftig länger arbeiten, mehr Stunden am Tag, mehr Jahre unseres Lebens. Das geht nur mit mehreren Pausen am Tag. "Man muss auch mal eine Viertelstunde einfach so aus dem Fenster gucken können", sagt Weidinger. "Und warum nicht eine Liege im Büro aufbauen?" Dafür bleibt man abends mal länger.

Auch für diese neue Freiheit, die viel mit Verantwortung zu tun hat, gibt es jetzt übrigens ein deutsches Wort, es heißt Zeitsouveränität. So was wie die Mischung aus Arbeit, Ausdemfenstergucken, Kaffeepause und Kinderabholen. Hallo Finnland, nur mal vorsorglich: die "Zeitsouveränität", die bleibt aber hier in Deutschland. Wir suchen nur noch ein schöneres Wort dafür.

 

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